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Was Berufsunfähigkeit für junge Menschen bedeutet

Foto: Kenstocker / Adobe Stock

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Warum Jule an manchen Tagen einfach nicht aus dem Bett kommt, erklärt sie so: Normalerweise zieht bei Menschen jede Tätigkeit im Alltag etwas Energie aus der Batterie, die sie dann im Schlaf wieder voll aufladen können. „Aber meine Batterie ist kaputt. Wenn es gut läuft, kann ich sie auf 50 Prozent aufladen, aber wenn es schlecht läuft, steht sie nur auf 20 Prozent“, sagt sie, und: „Manchmal habe ich nicht mal die Energie, mir morgens die Zähne zu putzen.“ Grund dafür ist das sogenannte Chronic-Fatigue-Syndrom, ein neurologisches Erschöpfungssyndrom, unter dem Jule leidet. Im Laufe ihrer Zwanziger hat sie die Diagnose dafür bekommen, sowie für Multiple Sklerose und Epilepsie. Mittlerweile ist Jule Rentnerin – dabei ist sie erst 30 Jahre alt.

Vor allem die schnelle Erschöpfung habe Jule in die Rente getrieben. Vorher habe sie gerne und viel gearbeitet, als Abteilungsleiterin im Textil-Einzelhandel in Leipzig. Doch mit der Zeit sei es immer anstrengender geworden, den ganzen Tag durch den Laden zu laufen, sagt Jule. Den Heimweg nach der Schicht habe sie oft kaum noch geschafft. Zusammen mit ihrem Partner Sven entschied sie dann: So geht es nicht mehr.  Eine schwerwiegende Entscheidung, denn für viele Menschen bedeutet Arbeit viel mehr als nur Geld zu verdienen. Arbeit formt die eigene Identität und die anderen, privaten Lebensbereiche. Das bekam auch Jule zu spüren: „Es fehlen die sozialen Kontakte – und eine Aufgabe zu haben. Ich würde sofort wieder arbeiten gehen, wenn ich könnte.“

Ohne Arbeit fehlt in erster Linie aber das Einkommen. Für Menschen, die wie Jule aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können, gibt es eine gesetzliche Rente. 2020 bekamen rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland diese Erwerbsminderungsrente, kurz EM-Rente, von der Deutschen Rentenversicherung. 42 Prozent der Anträge wurden allerdings abgelehnt. Das durchschnittliche Eintrittsalter liegt zwar bei 53 Jahren, aber es gibt auch jüngere Menschen, die wie Jule die Rente beantragen. Dabei ist die Höhe der EM-Rente unter anderem vom letzten Gehalt abhängig. Letztes Jahr lag der Durchschnitt des vollen Betrages bei 882 Euro im Monat. Jule bekommt einen etwas höheren Betrag. Für den sei sie auch sehr dankbar, aber ihren normalen Lebensstandard könne sie sich ohne ihren Partner trotzdem nicht leisten.

„Letztendlich ist man der Willkür der Versicherungswirtschaft ausgesetzt“

Den vollen Rentenbetrag bekommt man nur, wenn man keinen Beruf länger als 3 Stunden pro Tag ausüben kann. Wenn man als Handwerker:in zum Beispiel noch in der Lage ist, Vollzeit im Kundenservice zu arbeiten, gilt man zwar als berufsunfähig, aber nicht als erwerbsunfähig. Heißt: Man bekommt keine staatliche Unterstützung. In dieser Form gibt es die EM-Rente erst seit 2001. Vorher gab es eine umfassendere gesetzliche Berufsunfähigkeitsversicherung. Die gilt jetzt nur noch für Menschen, die vor dem 2. Januar 1961 geboren wurden. Also längst nicht für junge Menschen, die berufsunfähig werden.

Der Bund der Versicherten (BdV), ein unabhängiger Verein, der für die Rechte von Versicherten eintritt, kritisiert die aktuellen Regelungen: „Sie reichen nicht aus, um einen Lebensstandard aufrecht zu erhalten“, sagt Bianca Boss, Pressesprecherin des BdV. Sie empfiehlt eine private Berufsunfähigkeitsversicherung. Das sei die beste Möglichkeit, den bisherigen Lebensstandard zu erhalten, sollte man man auf einmal nicht mehr arbeiten gehen können. Das Problem: Eine private Berufsunfähigkeitsversicherung ist vor allem für Menschen mit Vorerkrankungen schwer zugänglich. „Letztendlich ist man da der Willkür der Versicherungswirtschaft ausgesetzt“, gibt Bianca Boss zu. „Wenn man zum Beispiel regelmäßig Kopfschmerzen hat, einen Bandscheibenvorfall oder einen Spreizfuß hatte, sieht es schon schlecht aus.“ Auch Jule hatte vor ihren Diagnosen keine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen – danach wäre es für sie wahrscheinlich schwer geworden.

Eine weitere Voraussetzung der EM-Rente ist, dass man mindestens fünf Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt haben muss – was den Zugang gerade für junge Menschen erschwert. 2020 war das bei rund 20 Prozent der Ablehnungsgrund. Auch deswegen empfiehlt Bianca Boss, so früh wie möglich eine private Versicherung abzuschließen – dann seien die meisten Menschen körperlich noch fit und die Beiträge niedriger. Doch in der Ausbildung, im Studium oder als Geringverdiener:in ist die vergleichsweise teure Versicherung trotzdem nicht leicht zu stemmen. 

Neben Unfällen und Verletzungen  gehören auch psychische Erkrankungen zu den Hauptgründen für die Berufsunfähigkeit. Laut der deutschen Rentenversicherung waren diese bei der EM-Rente vergangenes Jahr mit 41 Prozent sogar die häufigste Ursache, gefolgt von „Neubildungen“, also zum Beispiel Krebs. Dann erst folgten Erkrankungen an Skelett, Muskeln und Bindegewebe. 

"Mit 29 sollte ich Rente beantragen?“

Das betrifft auch Lisa, 31, aus Bamberg. Sie geht seit fast 10 Jahren wegen chronischer Depressionen nicht mehr in Vollzeit arbeiten. Schon als Jugendliche vermutete sie, psychische Probleme zu haben, schwänzte oft die Schule, brauchte viele Pausen. Als Lisa 22 Jahre alt war, erlitt sie während einer Schicht bei ihrem Gastro-Job einen Nervenzusammenbruch. Erst durch die anschließende Therapie habe sie sich eingestehen können, dass sie krank ist. Doch die Depressionen blieben. Für einige Jahre lebte sie von Arbeitslosengeld II und ging gar nicht mehr arbeiten.

Seit 2019 arbeitet sie wieder für drei bis sechs Stunden die Woche, meist als Putzkraft oder Haushaltshilfe. Immer wieder durchlebt sie stärkere depressive Phasen, weswegen sie ihre Stellen aufgeben muss. „Das Jobcenter kam letztes Jahr auf mich zu, als es gemerkt hat, dass es wohl auf lange Sicht erstmal nicht besser wird“, erinnert sie sich. Sie sollte einen Antrag auf die EM-Rente stellen, denn auch sie hatte keine private Versicherung. „Für mich war die Vorstellung schlimm: Mit 29 sollte ich Rente beantragen?“

„Viele denken sofort: Die Person bekommt jetzt einfach Geld, anstatt: Die Person ist vielleicht richtig krank“

Jule und Lisa berichten beide von fehlendem Verständnis für ihre Situation – auch in ihrem persönlichen Umfeld. „Es gibt so dieses Vorurteil: Rente bekommen nur alte Menschen oder Menschen mit einer sichtbar schweren Erkrankung“, sagt Jule. Ihr „buntes Potpourri neurologischer Erkrankungen“, wie sie es selbst zusammenfasst, sieht man ihr auf den ersten Blick nicht an. „Viele denken sofort: Die Person bekommt jetzt einfach Geld, anstatt: Die Person ist vielleicht richtig krank.“ Selbst gute Freund:innen hätten ihr nicht geglaubt, sie sogar faul genannt und ihren Partner bemitleidet.

Auch Lisa sagt, dass die Frage nach ihrem Beruf oft unangenehm sei – denn auf die Antwort „nichts“ folgen noch mehr unangenehme Fragen. Das sei aber schon besser geworden, seitdem sie offen über ihre mentale Gesundheit spricht. Sie selbst wünsche sich ja auch, normal arbeiten zu können: „Ich bin nicht zu Hause, weil ich keine Lust habe oder mich vor irgendetwas drücken will. Auch wenn es vielleicht manchmal nicht so aussieht – einen Tag zu bestreiten, ist ja schon Arbeit für mich.“

Wie viele Stunden Arbeit für die betroffene Person noch möglich sind, bestimmt die Deutsche Rentenversicherung in der Regel mithilfe von ärztlichen Gutachten. So überprüfen sie, ob eine berufliche oder medizinische Rehabilitation – mithilfe eines Reha-Aufenthaltes oder einer Umschulung – in Frage kommt. Rund 70 Prozent der Ablehnungen begründet die Rentenversicherung damit, dass die kranke Person im Rahmen des Gutachtens als nicht ausreichend erwerbsgemindert befunden wird. 

Zwar wurde Jules Antrag letztendlich angenommen, der ganze Prozess habe sie aber sehr belastet. Ein Gutachter habe ihr zum Beispiel gesagt, sie wirke psychisch instabil, da könne Arbeit doch helfen. Und eine Gutachterin des Arbeitsamts  – eine Gynäkologin – soll ihr ganz offen gesagt haben, dass sie noch nie eine MS-Patientin hatte. „Da sind viele Tränen geflossen. Es war sehr kompliziert und langwierig”, so Jule. 

„Ich möchte die Rente ja nicht, um faul sein zu können“

Auch Lisa hat schlechte Erfahrungen mit einem Gutachter gemacht. Sie kritisiert, kaum mit dem Gutachter selbst, einem Psychiater in Bamberg, gesprochen zu haben – das ausführliche Gespräch führte sie stattdessen mit einer angestellten Ärztin. Die habe danach für den Gutachter nur kurz zusammengefasst, was besprochen wurde. Auf Nachfrage bestätigt die Rentenversicherung gegenüber jetzt, dass sowas durchaus erlaubt sei. Vorausgesetzt, der oder die verantwortliche Gutachter:in mache sich selbst ein ausreichendes Bild von der zu begutachtenden Person. Als Lisa danach den Brief mit dem Ergebnis bekam, war sie geschockt: Laut Gutachten soll sie in der Lage sein, 30 Stunden die Woche arbeiten zu gehen. Auf einmal erwartete das Jobcenter in Bamberg, das bisher viel Verständnis für ihre Situation gezeigt hatte, dass sie eine berufliche Umschulung macht. Schon 2017 hatte Lisa versucht eine neue Ausbildung in einem Büro beginnen. „Aber es war einfach zu früh, zu viel“, sagt sie. „Bei der Umschulung hatte ich Angst, dass ich jetzt zu irgendwas gezwungen werde, was auf Dauer wieder nicht funktionieren wird.“ 

Mittlerweile hat Lisa angefordert, das Gutachten einzusehen und ist in Widerspruch gegangen. Ihre Vorwürfe werden nun geprüft. Bei häufigen Beschwerden würden sie sich auch von Gutachter:innen trennen, erklärt die Rentenversicherung auf Nachfrage. Lisas Antrag steht gerade still – er wurde nicht abgelehnt, aber auch nicht gestattet. Mitte September wäre sie eigentlich für fünf Wochen in eine medizinische Reha geschickt worden. Erst fand sie das sinnlos – sie habe ja kein Burnout, das wieder weggehen würde. Aber: „Mittlerweile sehe ich das durchaus als Chance, ein realistisches Gutachten zu bekommen“, sagt sie. „Ich möchte die Rente ja auch nicht, um faul sein zu können, sondern um den Raum zu bekommen, den ich brauche, um wieder belastbarer zu werden." Kurz vor dem Rehabeginn werden ihre Depressionen wieder schlimmer. Eine Woche vorher lässt sie sich freiwillig in eine Psychiatrie einweisen. Die Reha wird erstmal ausgesetzt, bis es ihr besser geht.

Zusammen mit der Verbraucherzentrale NRW forderte der BdV schon 2015 eine Rückkehr zum gesetzlichen Berufsunfähigkeitsschutz. „Der Staat hat sich definitiv aus der Verantwortung gestohlen, ohne dafür zu sorgen, dass Menschen diesen Versicherungsschutz auch garantiert bekommen“, sagt BdV-Pressesprecherin Bianca Boss. Jule hatte sich eine Entfristung ihrer Rente gewünscht, aber erstmal nur drei weitere Jahre bewilligt bekommen. Wegen eines Fehlers bei der Bewilligung befindet sie sich gerade in einem Klärungsverfahren mit der Rentenversicherung. Für die Zukunft wünscht sie sich vor allem weniger solcher komplizierter bürokratischer Hürden. „Weil ich nicht arbeiten kann, bin ich eh schon in einer Situation, die mir unangenehm ist. Es ist hart, wenn mir das noch zusätzlich so schwer gemacht wird.“

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