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„Die Angst vor dem Auffliegen wird mit jedem Erfolg größer“

Besonders introvertierte Menschen können vom Impostor-Syndrom betroffen sein oder Menschen, die sehr perfektionistisch sind.
Collage: Daniela Rudolf-Lübke / Foto: cookie_studio / freepik

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„Verdiene ich meinen Erfolg überhaupt? Eigentlich kann ich doch gar nichts. Ich bin hier vollkommen fehl am Platz.“ Das sind Gedanken, die wohl viele Menschen aus dem Berufsleben oder Uni-Alltag kennen. Wenn sich diese Selbstzweifel verfestigen und man eine Angst entwickelt, als Hochstapler*in „aufzufliegen“, spricht man vom Impostor-Syndrom. Dabei denken Betroffene oft, dass sie nur erfolgreich sind oder eine Prüfung bestanden haben, weil sie Glück hatten – selbst, wenn sie sich die Prüfung hart erarbeitet haben. Das psychologische Phänomen wurde 1978 von den Psychologinnen Pauline Clance und Suzanne Imes entdeckt. Eine US-amerikanischen Studie von 2019 zeigt, dass von über 200 Studierenden etwa 20 Prozent vom Hochstapler-Syndrom betroffen sind.  

Michaela Muthig ist Ärztin für Psychosomatik und berät als Online-Coach Menschen zum Thema Selbstsabotage. In ihrem Buch „Und morgen fliege ich auf: Vom Gefühl, den Erfolg nicht verdient zu haben“ klärt sie über die verschiedenen Aspekte des Hochstapler-Syndroms auf. Im Interview mit jetzt erklärt die Expertin, warum viele Menschen betroffen sind, was man dagegen machen kann und wie sich die Corona-Pandemie auf Menschen mit dem Impostor-Syndrom auswirkt.  

michaela muthig portrait

Michaela Muthig hat als Online Coach mit vielen Menschen zu tun, die ihren Erfolg nicht verinnerlichen können und sich dadurch selbst im Weg stehen.

Foto: privat

jetzt: Schauspielerinnen wie Emma Watson oder Lupita Nyong’o gaben öffentlich zu, sich manchmal wie Hochstaplerinnen zu fühlen. Wie kann es sein, dass sogar solche erfolgreichen Menschen, die Oscars gewonnen haben, sich so fühlen? 

Michaela Muthig: Zum einen haben viele Betroffene eine verzerrte Wahrnehmung. Man sieht dann immer vor allem die eigenen Schwächen, registriert nicht die Erfolge, sondern nur die kleinen Fehler, wie beim Schauspielern etwa Versprecher oder Aussetzer. Zum anderen liegt es auch an der Art wie Betroffene Dinge, die sie erleben, bewerten. Haben sie zum Beispiel eine Prüfung bestanden, denken sie nicht, dass sie wegen ihrer guten Leistung bestanden haben, sondern, dass der*die Prüfende einen guten Tag hatte. Oder sie denken, sie hätten Glück gehabt, dass die richtigen Fragen gestellt wurden.

Wie kann man denn Menschen mit Hochstapler-Syndrom erkennen? 

Wenn solche Menschen zum Beispiel ein Kompliment bekommen, dann wiegeln sie es sehr oft direkt wieder ab und sagen etwas wie: „Ach, das war doch nichts!“ Selbst, wenn sie Komplimente bekommen, versuchen sie also ihre Erfolge sofort wieder kleinzuhalten.

„Menschen sprechen leider nicht so gerne über ihre Selbstzweifel und haben das Gefühl, etwas verbergen zu müssen“

Wie unterscheiden sich die Selbstzweifel beim Hochstapler-Syndrom von „normalen“ Selbstzweifeln, die jede*r mal hat? 

Normale Selbstzweifel werden weniger, wenn man Erfolge hat. Wenn man etwa Angst davor hat, einen Vortrag zu halten und man danach aber Lob bekommt, ist die Angst vor dem nächsten Vortrag etwas kleiner. Bei Menschen mit dem Hochstapler-Syndrom werden die Selbstzweifel größer, weil es in ihrem Kopf ja nur Glück war. Es ist sogar so: Je mehr Erfolge so jemand hat, desto größer wird der Druck für die Person, dass bei nächsten Mal noch mehr erwartet wird. Die Angst vor dem Auffliegen wird mit jedem Erfolg größer.

Warum tritt das Syndrom bei so vielen Menschen auf? 

Eine Sache, die dazu beiträgt, ist der Social-Media-Konsum. Wir sehen dort meistens die polierte Version anderer Menschen und vergleichen uns damit. Dazu kommt, dass Menschen leider nicht so gerne über ihre Selbstzweifel sprechen, da sie oft das Gefühl haben, etwas verbergen zu müssen. Wenn wir darüber sprechen würden, würden wir merken, dass es ganz vielen Menschen so geht. Und unsere Gesprächspartner*innen könnten uns mehr Rückmeldung geben: „Hey, ich nehme dich ganz anders wahr.“ Dann könnten wir unser negatives Selbstbild hinterfragen.

Ist das Hochstapler-Syndrom eine psychische Erkrankung? 

Man spricht zwar oft von einem Syndrom, was so klingt, als sei es eine Krankheit. Aber offiziell lautet der Name „Impostor-Phänomen“, und das hat erstmal keinen Krankheitswert. In manchen Fällen kann es aber eben in psychische Erkrankungen, wie zum Beispiel Angststörungen oder Depressionen, münden.

Gibt es bestimmte Kriterien, warum sich Menschen eher als Hochstapler*in fühlen? 

Es gibt zwei verschiedene Aspekte. Zum einen spielen Persönlichkeitsanteile eine Rolle. Betroffen sind eher introvertierte Menschen, weil sie sich eben weniger Rückmeldung von anderen holen und Dinge mit sich selbst ausmachen wollen. Oder auch Menschen, die zum Perfektionismus neigen, weil sie annehmen, erfolgreich sei man nur, wenn man gar keinen Fehler macht. Der zweite Aspekt ist das Milieu, aus dem man stammt: Also, wenn man zum Beispiel die erste Person in der Familie ist, die studiert. Oder bei People of Color wird das Syndrom bestärkt, wenn sie sich in Situationen befinden, wo sie selbst eine Minderheit darstellen und dadurch das Gefühl haben, dass sie sich beweisen müssten, aber zugleich, dass sie nicht dazu gehören. Generell betrifft es eher Leute, die solche Vorreiter-Rollen einnehmen.

„Es hilft vielen, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und sich gegenseitig Feedback zu geben“

Gibt es noch andere Ursachen? 

Es hat auch viel mit unserer Kindheit zu tun, ob sich das Hochstapler-Syndrom entwickelt. So kann es sein, dass man als Kind eine bestimmte Rolle ausfüllen musste, und davon überfordert war. Zum Beispiel ein Kind, dessen Mutter an Depression erkrankt ist, wodurch das Kind das Gefühl hatte, dass es jetzt der Erwachsene sein und Rücksicht nehmen muss. Dadurch konnte es nicht mehr richtig Kind sein und wurde in eine Rolle gesteckt, die es gar nicht erfüllen konnte. Ein anderer Grund, der mit der Kindheit zusammenhängt, kann eine völlig überzogene Vorstellung davon sein, was Erfolg und gute Leistungen sind. Zum Beispiel: Intelligent bin ich nur, wenn ich für meine Leistungen gar nichts tun muss oder Expert*in bin ich nur, wenn ich wirklich alles zu einem Thema weiß. Solche Werte geben auch oft Eltern ihrem Nachwuchs mit.

Was kann man gegen das Impostor-Phänomen machen?  

Der erste Schritt ist, sich jemand anzuvertrauen. Man muss sich deswegen nicht schämen, und ist auch nicht allein damit. In der kognitiven Verhaltenstherapie gibt es dann weitere Strategien. Eine ist, die eigene Bewertung zu hinterfragen: Würde man das bei einer anderen Person auch so sehen oder schätzt man das so nur bei sich ein? Dann sollte man auch hinterfragen, was für einen selbst eigentlich Erfolg ist. Hier muss man lernen, den Fokus zu verändern und nicht mehr nur die eigenen Fehler zu sehen. Dabei hilft es vielen, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und sich gegenseitig Feedback zu geben.

Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf Menschen mit Impostor-Syndrom aus? 

Aus meiner Erfahrung heraus ist seit Corona die Nachfrage und der Bedarf an Beratungsangeboten und Coachings in dem Bereich stark angestiegen. Aber offizielle Zahlen oder Studien gibt es noch nicht dazu.

Was könnten Deiner Meinung nach die Gründe für den Anstieg sein? 

Mein Gefühl ist, dass durch die Verschiebung ins Digitale und mit Home-Office die virtuellen Scheinwelten größer werden, wodurch sich das Impostor-Syndrom verstärken kann. Dadurch kann auch die Erwartungshaltung an uns selbst zunehmen. Und diese ganzen kleinen realen Kontakte, die man im Büro hat, bleiben aus. Mal schnell bei der Kollegin nebenan reingucken und sagen: „Oh, irgendwie läuft es gerade nicht so gut.“ Und zu hören, ihr geht es vielleicht auch so, das fällt gerade weg – und dadurch können sich die Zweifel und Ängste vermehren.

Hast Du vielleicht noch einen Tipp, wie wir jetzt im Home-Office gegen unsere Selbstzweifel ankämpfen können? 

Es hilft, Erfolge und positive Rückmeldungen zu sammeln, sich aufzuschreiben, wenn etwas gut gelaufen ist und bei Selbstzweifeln die eigenen Erfolge vor Augen zu führen. Damit ändert man seinen Fokus: Ganz automatisch fokussiert man sich nicht mehr auf die eigenen Fehler und Schwächen, sondern es fallen einem mit der Zeit auch mehr die eigenen Stärken und Erfolge auf.

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