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Wie verläuft ein Impfdurchbruch normalerweise?
Tag X: Die Party
Vielleicht war es die Frau, die so schön gesungen hat? Vielleicht auch der Mann mit den 70er-Jahre-Koteletten, der mir zur Begrüßung um den Hals gefallen ist? Oder sein Kumpel, der so laut lacht? Im Nachhinein kann ich nicht sagen, bei wem ich mich mit Corona angesteckt habe. Ich weiß nur wo: Auf einer WG-Party in Berlin. Ein Freund hatte mich in die Wohnung mitgenommen, irgendwo in Neukölln. Eine kleine Runde unter Freundinnen und Freunden. So zumindest der Plan. Als ich die WG an dem Abend betrete, kenne ich niemanden, werde aber von allen umarmt. Im Wohnzimmer singt die Frau mit der schönen Stimme, ein langhaariger Mann spielt Jazzgitarre. Es riecht nach Gras. Berlin halt. Oder eher, wie man sich Berlin so vorstellt. Um vier Uhr früh falle ich glücklich in mein Bett. Corona? Gaaanz weit weg. Biontech sei Dank.
Phase 1: Die Woche danach
Am nächsten Morgen wache ich mit einem Kratzen im Hals auf. Meine Freundin liegt seit zwei Tagen mit einer Erkältung im Bett. Ich vermute, dass ich mich bei ihr angesteckt habe. Um nicht krank zu werden, wähle ich eine bewährte Taktik: Ich ignoriere das Kratzen. Und hoffe, dass es von allein wieder verschwindet. Fünf Tage später ist es tatsächlich wieder weg. Dafür habe ich auf einmal Schnupfen und Kopfweh. Ich fühle mich seltsam erschöpft. Trotzdem mach ich mir keine Sorgen und glaube an eine Erkältung. Und an Biontech. Meine Firewall gegen das Coronavirus.
Unser Autor Alexander Gutsfeld hatte Pech und steckte sich trotz Impfung mit dem Virus an.
Phase 2: Ich rieche mein Deo nicht ...
Eine Woche nach der Party geht es mir wieder besser. Ich fühle mich nur noch etwas schwach, also fahre ich zu meinen Eltern nach München. Zum Abendessen koche ausnahmsweise ich: Spaghetti aglio e Olio. Mit extra viel Knoblauch. Den ich allerdings kaum schmecke. Ich ahne, woran das liegen könnte: Ich bin einfach kein guter Koch! Dafür ziemlich gut im Verdrängen. Denn auch als ich mich am nächste Morgen mein Deo nicht rieche (Axe Dark Temptation!!), schöpfe ich keinen Verdacht. Denn meine zweite Impfung ist nur vier Monate her. Die Möglichkeit, dass ich mich trotz Impfung mit dem Coronavirus infiziert haben könnte, habe ich zu diesem Zeitpunkt einfach nicht auf dem Schirm. Klar, ich habe gehört, dass es Impfdurchbrüche gibt. Aber vor allem bei Alten und Kranken, nicht bei Menschen, die wie ich jung und gesund sind. Trotzdem lasse ich mich eine halbe Stunde später testen – aber nur, weil mein Arbeitgeber das von mir verlangt. Weil ich spät dran bin, stecke ich am S-Bahnhof pflichtschuldig das Stäbchen ins linke Nasenloch und bohre so lange bis die Tränen kommen. Als ich 15 Minuten später aus der S-Bahn steige, bin ich Corona-positiv.
Phase 3: OMG! Ich hab Corona!
An der Haltestelle drehe ich mich erstmal im Kreis. In der Hoffnung, dass irgendwo eine Apotheke steht und ein zweiter Schnelltest aus Plus wieder Minus macht. Weil ich keine Apotheke finde, steige ich wieder in die S-Bahn. Zur nächsten Teststelle. Seit eineinhalb Jahren dreht sich unser Alltag um Corona und trotzdem bin ich auf die Erkrankung nicht vorbereitet. In der Bahn kommt mir irgendwann der Gedanke, dass ich hier eigentlich gar nicht mehr sein sollte. Ich bin ja jetzt eine Bedrohung für meine Mitmenschen, ein Wirt mit einem gefährlichen Gast. Ich drücke meine Maske noch enger ans Gesicht. Im Testzentrum steckt mir ein Mann im weißen Kittel ein Stäbchen in den Rachen. Drei Stunden später habe ich es schwarz auf weiß: Der PCR-Test ist positiv. Das Gesundheitsamt hat sich zwar noch nicht bei mir gemeldet, aber ich weiß auch so, was jetzt ansteht: Eine Woche Isolation. Mindestens.
Phase 4: Warum ich?
Weil ich immer noch in München bin, ziehe ich wieder in mein ehemaliges Kinderzimmer, das ich nicht mehr verlassen darf, damit ich meinen Eltern nicht zu nahe komme. Ich benachrichtige meine Kontaktpersonen. Den Freund von der WG-Party kann ich nicht erreichen. Also schreibe ich erstmal eine Mail ans Gesundheitsamt.
Wie oft habe ich mich in den vergangenen eineinhalb Jahren vor Corona gefürchtet? Vor Long Covid und vor allem davor, dass ich meine Eltern anstecken würde. Sie sind beide über 60. Also blieb ich wie alle zu Hause. Wenn ich mal Freunde zum Trinken traf, dann mit einem schlechten Gewissen. Bis zur Impfung. Der Impfpass war mein Ticket in die Freiheit: Endlich wieder Freunde treffen, Party machen, Spaß haben! Und jetzt? Habe ich mich auf einmal infiziert.
Nach ein paar Stunden klingelt mein Handy. Es ist mein Freund von der WG-Party. Seine Stimme ist belegt, er klingt verschnupft. Auch er hat Corona, trotz zweifacher Impfung. Wie mindestens neun andere auf der Party. Darunter sind Geimpfte – und Ungeimpfte. Ich war auf einem Superspreading-Event. Aber wie konnte ich mich trotz Impfung anstecken?
Ein Anruf bei Christine Falk, vier Wochen nach meiner Erkrankung. Falk ist die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Sie betont erstmal, dass ich eine Ausnahme bin. Das RKI meldet seit Beginn der Impfkampagne fast 150 000 Impfdurchbrüche. „Aber bei 55,5 Millionen geimpften Menschen ist das schon immer noch sehr wenig.“ Ich gehöre also zu den 0,3 Prozent der geimpften deutschen Bevölkerung, die bisher an Corona erkrankt ist.
Christine Falk erzählt mir, dass es von der Stärke der Immunabwehr abhänge, ob sich Geimpfte mit dem Coronavirus anstecken – und wahrscheinlich von der Menge der Viren, mit denen man sich infiziert. Das erklärt auch, warum sich auf der Party so viele angesteckt haben. Denn dort wurde nicht nur getrunken und gelacht, sondern auch gesungen. Beim Singen werden besonders viele Viruspartikel freigesetzt.
Phase 5: Sorgen
Am zweiten Tag meiner Isolation fühle mich eigentlich ganz gut. Außer dass ich immer noch nichts riechen kann. Meine Eltern stellen mir zweimal am Tag Essen vor die Tür, ich schaue die erste Folge von Squid Game. Könnte schlimmer sein. Wäre da nicht die Frage, wie gefährlich so ein Impfdurchbruch ist. Christine Falk beruhigt mich im Nachhinein: „Der ist überhaupt nicht gefährlich, wenn keine Beeinträchtigungen des Immunsystems vorliegen.“ Trotzdem sollte man sich nicht leichtfertig mit dem Virus anstecken. Denn über die Langzeitfolgen einer Covid-Erkrankung von Geimpften wisse man noch zu wenig. Noch größer ist aber meine Sorge, dass ich meine Eltern angesteckt habe. Schließlich habe ich mit ihnen den Abend vor dem positiven Test verbracht. Zwar gehen Expertinnen und Experten davon aus, dass Geimpfte weniger ansteckend sind als Ungeimpfte.Trotzdem können sie das Virus weitergeben.
Phase 6: Ich will hier raus!
Am dritten Tag meldet sich endlich das Gesundheitsamt bei mir. Es schickt mich in die Quarantäne, in der ich schon längst bin. Das Schlimmste an der Isolation ist die Isolation. Die ersten Tage sind noch okay. Ich nutze die Zeit, um mich auszuruhen, zu lesen, Netflix zu schauen. Was man eben so tut, wenn man alleine ist. Doch spätestens am sechsten Tag wird mein Zimmer immer kleiner. Und mein Drang nach Freiheit immer größer. Also versuche ich, mich freizutesten. Am achten Tag mache ich meinen dritten PCR-Test in dieser Woche. Drei Stunden später erfahre ich, dass ich endlich nicht mehr ansteckend bin. Als ich es noch war, hat sich zum Glück wohl niemand bei mir infiziert. Auch nicht meine Eltern. Ihre Schnelltests waren alle negativ.
Phase 7: Freiheit!
Nach acht Tagen Isolation bin ich wieder unter Menschen. Und zwar in einer Kneipe. Das fühlt sich ein wenig seltsam an – zumindest bis zum ersten Bier. Muss es aber gar nicht. Das sagt zumindest Christine Falk: „Sie haben jetzt den besten Impfschutz, den man wahrscheinlich haben kann: Geimpft, Durchbruch, leichter Verlauf.“ Die Infektion hat also meine Immunschutz gestärkt, quasi eine kostenlose Boosterimpfung. Den Impfdurchbruch sollte man aber eben auf keinen Fall absichtlich herbeiführen, allein schon, weil man jemanden anstecken könnte. Aber immerhin: Riechen kann ich wieder. Die Party kann also beginnen. Hoffentlich geht diesmal alles gut.