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Impf-Selfies machen Ungeimpfte nur nervös
Wer sich derzeit durch die Instagram-Stories von Freund*innen und Bekannten klickt, den überkommt schnell das Gefühl, es seien mittlerweile alle geimpft. Alle, außer man selbst vielleicht. Die Menschen zeigen sie gerne her: ihre Impfausweise, die Wartezimmer in Arztpraxen, ihre Oberarme mit Pflaster drauf. Bilder, die keinen Zweifel daran lassen: Dieser Mensch wurde gegen Covid-19 geimpft. Und dieser auch. Und dieser. Noch vor der Aufhebung der Priorisierung sind schon mehr als 45 Prozent der Deutschen über 16 Jahren zumindest erstgeimpft.
Um eines klarzumachen: Ich gönne die Impfung allen – ist doch toll, wenn wir uns in Richtung Herdenimmunität bewegen. Klasse, wenn die doppelt Geimpften beim Zusammentreffen von mehreren Haushalten nicht mehr dazuzählen und man endlich in großen Gruppen abhängen kann. Und trotzdem sorgt jedes Impf-Selfie bei mir für einen beschleunigten Herzschlag.
Meine vier engsten Freunde und Freundinnen sind bereits einmal geimpft, ebenso meine zwei Mitbewohnerinnen und meine Eltern. Die Gründe sind unterschiedlich: Ein paar von ihnen arbeiten in der Therapie oder sind Lehrkräfte. Es sind aber auch Menschen dabei, die einfach die richtigen Kontakte hatten: Der Vater des Kumpels ist Arzt, oder die Schwester des Freundes ist Ärztin, und so weiter. Und eine meiner Freundinnen hat sich bei einem Impf-Großevent, bei dem an einem Wochenende mehr als 2000 Dosen AstraZeneca ohne Priorisierung gespritzt wurden, in die Schlange gestellt und ist tatsächlich drangekommen.
Bis vor Kurzem war ich in Sachen Impfung noch entspannt – dann kamen die Impf-Selfies
Ich stand nicht in dieser Schlange. Ich war mir sicher, bei dem Andrang eh keine Chance zu haben. Außerdem war ich bis vor kurzem in Sachen Impfung noch entspannt. Denn Gesundheitsminister Jens Spahn sprach im Januar 2021 davon, „im Sommer allen ein Impfangebot“ machen zu können. Kürzlich wurde zudem die Aufhebung der Impf-Priorisierung ab dem 7. Juni beschlossen. Ich freute mich. Aber Spahn ergänzte auch: Die Aufhebung bedeute nicht, dass jede*r deshalb sofort im Juni ein Impfangebot bekommen würde.
Ob nun im Juni oder später im Sommer – ich wollte mich jedenfalls gedulden. Doch dann kamen sie plötzlich, die Impf-Selfies: Gesunde Menschen in meinem Alter erhielten aus dem Nichts kurzfristige Impftermine in ihren Arztpraxen oder kamen über Kontakte an den begehrten Stoff. Meine Instagram-Stories wurden wortwörtlich zugepflastert. Oberarme mit Pflastern und „I got vaccinated!“-GIFs und Fotos aus der Schlange vor dem Impfzentrum (#Finally). Eine Freundin bastelte sogar ein komplettes Reel vom Tag ihrer Erst-Impfung.
Anfangs reagierte ich noch mit Applaus-Emojis und konnte mich mitfreuen. Aber mittlerweile frage ich mich, warum man diese Impf-Storys postet: aus Stolz oder Hoffnung? Oder ist es Angeberei? Ein Impf-Selfie fühlt sich für mich mittlerweile an wie ein Unter-die-Nase-Reiben. Ich glaube nicht, dass die Geimpften das beabsichtigen. Aber in der Aufregung über die eine Spritze vergessen viele von ihnen vielleicht, dass eine Impfung zum jetzigen Zeitpunkt ein Privileg ist. Und dass es Leuten wehtun kann, dieses Privileg momentan noch nicht zu haben.
Klar: Jede Impfung ist eine gute Impfung. Aber je mehr Menschen vor mir dran sind, desto mehr kommt eine Sorge in mir hoch: Bald sind mir alle voraus. Was, wenn ich erst ganz am Ende geimpft werde? Wenn ich mich bis zum Schluss vor Corona fürchten und gleichzeitig mehr Einschränkungen aushalten muss als alle anderen?
Vermutlich bin ich auch deshalb etwas beunruhigt, weil ich meinen Impftermin in immer weitere Zukunft rücken sehe. Denn es ist ja nicht so, als ob ich mich nicht um einen Termin bemüht hätte. Ich habe mich bei einem Online-Dienst registriert, der mir kurzfristig frei gewordene Impftermine in der Nähe meines Wohnortes in Köln anzeigen soll. Ich trug mich auf der Impf-Liste der Kassenärztlichen Vereinigung ein. Ich recherchierte auf den Webseiten von Hausärzt*innen.
Ich frage mich, wann Menschen wie ich in der Impf-Planung eigentlich mitgedacht werden
Anfang Mai wurde dann auch noch verkündet, der Fokus solle in den kommenden Wochen erstmal auf Zweitimpfungen liegen. Das bedeutet für Impf-Willige: Noch länger warten auf die erste Spritze, Warten auf Normalität und ein Gefühl von Sicherheit. Außerdem strebt die Bundesregierung derzeit an, Kindern und Jugendlichen ab 12 Jahren bis Ende August ein Impfangebot zu machen. Und ich frage mich, wann Menschen wie ich in dieser ganzen Impf-Planung eigentlich mitgedacht werden. Denn es ist nun mal so: Ich bin jung und selbstständig, auf mich passt kein großer Konzern mit seiner Mitarbeiter-internen Impfstrategie auf. Ich gehöre auch nicht zu einer besonderen Gruppe, habe keine Vorerkrankungen oder Kontakt zu Risiko-Patienten. Wer oder was sollte mir hier zu einem baldigen Termin verhelfen?
Man könnte nun sagen, ich solle mich nicht so haben – weil es hier eben nicht nur um mich geht und andere die Impfung dringender brauchen. Und damit hätte man auch recht. Aber das Problem ist ja dieses: Mit meinen Sorgen bin ich nicht allein. Eine Kollegin erzählt mir von ähnlichen Gefühlen, mein Mitbewohner telefoniert reihenweise Arztpraxen ab, um irgendwo einen Termin zu bekommen. Wir werden langsam nervös. Mit jedem Impf-Selfie ein bisschen mehr. Auch, wenn die Angst übrig zu bleiben, am Ende doch recht irrational ist.
Denn eigentlich weiß ich: Der Tag meiner Impfung wird kommen. Ab dem 7. Juni kann ich offiziell versuchen, einen Termin im Impfzentrum oder bei meiner Hausärztin zu bekommen, ganz ohne Priorisierung. Derzeit habe ich zwar noch Visionen von abstürzenden Servern, Drängeleien im Impfzentrum und dauerhaft belegten Telefonleitungen. Aber alles wird sich einpendeln – und dann wird sich auch ein Impftermin für mich ergeben. Aber bis es so weit ist: Lasst doch bitte die Impf-Selfies sein. Dann können wir Ungeimpften uns zumindest weiterhin ungestört gut zureden.