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Hype um luzides Träumen: Hannah kann ihre Träume steuern
Hannah steht im Fahrstuhl. Sie drückt den Knopf für ihr Stockwerk. Langsam setzt sich die Anlage in Bewegung. Es geht nach oben. Plötzlich ein Rumpeln. Alles steht still. Aber nicht lange: Mit vollem Karacho stürzt der Fahrstuhl samt Hannah in den Keller.
Obwohl sie panische Angst hat, weiß sie, dass ihr nichts passieren kann. Sie weiß, dass sie träumt. Denn Hannah (Name geändert), 24 Jahre alt, Studentin aus Wien, ist seit Jahren Klarträumerin. Das bedeutet nicht nur, dass sie sich in der Regel bewusst ist, dass sie träumt. Sondern sie kann ihre sogenannten „luziden“ Träume auch selbst steuern. Das klappt vor allem deshalb, weil sie ihre Träume eigentlich immer schon aufschreibt. Was sie lange nicht wusste: Das Traumtagebuch ist eine der wesentlichen Trainingsmethoden, die Klarträumer anwenden, um in ihren Träumen die Kontrolle übernehmen zu können. Bei ihr ist das einfach irgendwann von selbst passiert: Plötzlich war sie sich ihrem Träumen bewusst. Erst im Nachhinein erfuhr sie von der riesigen Online-Community, die sich rund ums luzide Träumen gebildet hat.
Die Möglichkeit, selbst einmal der Architekt des eigenen Traumes zu sein wie Leonardo DiCaprio in Inception, begeistert immer mehr Neugierige: Superkräfte haben, dem Ex endlich wirklich den Kopf abreißen, in der Wüste Schneemänner bauen – das alles können sich Klarträumer selbst im Traum designen. Sie können sich also eine eigene Virtual Reality schaffen, ganz ohne Brille. Die Internetforen quellen mittlerweile über vor begeisterten Erfahrungsberichten und Anleitungen zum Nachmachen. Auch die Wissenschaft zieht nach – vor Kurzem veröffentlichten australische Wissenschaftler eine Studie darüber, wie man Klarträumen trainieren kann.
Aber so faszinierend und reizvoll dieser besondere Bewusstseinszustand auch wirken mag, er birgt auch Risiken. Und die sollte man auf jeden Fall bedenken, bevor man beschließt, auf eigene Faust das luzide Träumen zu erlernen.
Hannah erzählt von Träumen, in denen sie bewusst Wasser gebändigt hat oder steuern konnte, dass sie fliegt. Manchmal träumt sie aber auch einfach ihr tägliches Morgenritual: Sie wacht auf. Steigt aus dem Bett. Geht ins Bad. Putzt ihre Zähne. Sie ist sich noch nicht bewusst, dass sie träumt – sie denkt, dass sie sich wirklich gerade das Gesicht wäscht. Doch plötzlich wird es seltsam: Hannahs Vater steht in der Wohnung. Das kann aber gar nicht sein, weil er schon lange ausgezogen ist. Erst als die Traumumgebung von der Realität abweicht, wird Hannah klar: „Mein Körper liegt eigentlich im Bett und schläft.“ Erst dann kann sie Einfluss auf den Traum nehmen.
Wenn Traum und Realität einander zum Verwechseln ähnlich werden, führen Klarträumer bestimmte Reality Checks durch, um Schein und Wirklichkeit auseinanderhalten zu können. Der Klassiker: „Kann mich mal bitte jemand kneifen?“ ist also gar nicht so weit hergeholt. Leonardo DiCaprios Variante mit dem Kreisel, der fällt, wenn er wach ist, und sich weiterdreht, wenn er träumt, ist natürlich eleganter.
Simon Rausch hat ein Handbuch über das Klarträumen verfasst und gibt Seminare dazu. Der 30-Jährige setzt bei Reality Checks lieber auf verlässlichere Tricks als das Kneifen oder den Kreisel. Er hält sich zum Beispiel im Traum Nase und Mund zu und versucht einzuatmen. Im wachen Zustand ist das natürlich nicht möglich. Aber im Traumland gibt es nun mal keine Grenzen. Hält man sich dort Nase und Mund zu und will Luft holen, macht das der reale, schlafende Körper tatsächlich. „Man spürt dann so ein paradoxes, eigentlich schönes Gefühl“, sagt Simon. „Du merkst, deine Nase ist zu. Aber trotzdem kannst du einatmen. Das lässt dich oft erkennen, dass du träumst.“
Wenn sie nicht weiterträumen will, bringt Hannah sich selbst zum Aufwachen
Man könnte auch die eigenen Finger zählen, wegsehen und wieder hinschauen. Im Traum hat man dann meistens zu viele oder zu wenige Finger. „Bei mir war’s mal so, dass aus einem Finger ein anderer, kleinerer Finger rausgewachsen ist“, erzählt Simon. Am verlässlichsten ist laut Dr. Brigitte Holzinger vom Institut für Bewusstseins- und Traumforschung aber der Lese-Check: Einen Absatz lesen, wegschauen, wieder hinschauen. „Im Traum kann man das Gelesene – wenn man es richtig liest, Wort für Wort – nicht reproduzieren“, sagt Holzinger. Der Grund: Im Traum gibt es keine Beständigkeit, die Umgebung verändert sich laufend.
Hannah braucht solche Reality Checks in ihren Klarträumen nicht. Sie weiß eigentlich immer, dass sie träumt, sobald etwas in ihrem Traum von der Realität abweicht – wie zum Beispiel ihr Vater in der Wohnung. Wenn sie nicht mehr weiterträumen will, bringt sie sich selbst zum Aufwachen. Immer wieder sagt sie sich vor: „Wach auf, wach auf!“ Manchmal funktioniert das aber auch nicht ganz: Ihr Geist ist dann zwar wach, aber ihr Körper noch nicht. Dann gerät sie kurz in Panik.
Die Profis nennen das „Schlafparalyse“. Sicher ist es sehr beängstigend, wenn man aufwacht, sich aber nicht bewegen kann. Laut Simon ist das aber auch bei normalen Träumern völlig normal. Beim Übergang zwischen Wachsein und REM-Schlafphase passiere das immer. „Wenn man ein Klarträumer ist, ist es nur wahrscheinlicher, dass man dabei bei Bewusstsein ist. Normalerweise kriegt man es meistens einfach nicht mit“, sagt Simon.
Neben der Unbeweglichkeit kommt es während dieser Übergangsphase oft auch zu Phantom-Geräuschen und Halluzinationen: „Ich höre jemanden meinen Namen rufen oder sonstige Gespräche in meinem Schlafzimmer“, schreibt User Zeerox im Klartraumforum. „Einmal flogen zwei Frauen in weißen Gewändern direkt auf mich zu, mit ausgestreckten Armen“, schreibt User Beni. Hannah versucht in solchen Momenten, mit den Fingern zu zucken oder laut zu schreien. Wenn das nicht funktioniert, empfiehlt Simon, während der Schlafparalyse den Atemrhythmus zu variieren. So oder so: Nach einigen Sekunden ist der Horror vorbei und der Körper wacht ebenfalls auf – also nichts, wovor man sich wirklich fürchten muss.
Traumforscherin Brigitte Holzinger steht dem immer größer werdenden Trend zum Do-it-yourself-Traumbasteln trotzdem sehr skeptisch gegenüber. Sie warnt davor, im eigenen Unterbewusstsein herumzutrampeln, ohne sich von einem Psychotherapeuten dabei begleiten zu lassen. „Man sollte luzide Träume nicht als gratis Instant Virtual Reality verkaufen“, sagt sie. Denn wenn man nicht genau weiß, was man da tut, kann man einiges anrichten: „Unbewusste Dynamiken könnten sich entfalten, die besser nicht entfaltet werden sollten, zum Beispiel Größenwahn oder Realitätsverlust.“ Ist die eigene Psyche also ohnehin etwas wackelig, könnte man durchaus eine ausgewachsene Psychose riskieren.
Seit ihrem Klartraum im Aufzug hat Hannah auch in der Realität Angst vorm Aufzugfahren
Wenn man es aber kontrolliert macht, dann spricht ihrer Meinung nach nichts dagegen: „Klarträumen ist etwas Wunderbares!“ Und besitzt außerdem auch hohes therapeutisches Potenzial. Nur sollte es dabei eben nicht nur darum gehen, der Realität zu entfliehen. „Man sollte an das Klarträumen mit Respekt herangehen“, meint Holzinger. „Ich gebe meinen Patienten einen Rahmen dafür, worauf man in der Psychotherapie achtet. Dieses Wissen hilft den Klarträumern und gibt Orientierung.“ Man muss sich also entscheiden, welcher Traumbastler man sein will: ein wildgewordener Hobby-Werkler, der so lange an seiner Schrebergarten-Hütte hämmert und schraubt, bis alles einstürzt. Oder ein bedachter IKEA-Stammkunde, der versucht, sich an den Plan und das Chaos so gering wie möglich zu halten.
Bei Hannah hat das Klarträumen auch in der Realität etwas verändert. Eigentlich hatte sie nie Angst vorm Aufzugfahren. Aber seit sie im Klartraum mit dem Fahrstuhl abgestürzt ist, kann sie nur schwer ohne mulmiges Gefühl vom Erdgeschoss in den zehnten Stock fahren. Für sie ist das aber kein Grund, mit dem Klarträumen aufzuhören. Immerhin erlebt sie in der Traumwelt jedes Gefühl viel intensiver. Und wer würde nicht gerne unbändige Liebe oder grenzenloses Glück empfinden?