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Coronavirus: Wie Menschen in systemrelevanten Berufen die „zweite Welle“ erleben
Die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus steigt seit Tagen an. Das Robert-Koch-Institut meldete den Rekordwert: Über 7000 Menschen haben sich innerhalb eines Tages nachweislich mit dem Virus infiziert. Wie erleben Menschen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, die „zweite Welle“ der Corona-Pandemie?
Wir haben mit einer Lehrerin, einer Krankenpflegerin, einer medizin-technischen Assistentin, einer Einzelhändlerin und einem Paketboten gesprochen:
„Ich fühle mich durch den Staat nicht gut geschützt“
Sophie (Name geändert), ist 26 Jahre alt und Lehrerin an einer staatlichen Schule.
„Gerade unterrichte ich noch bis zu 30 Kinder in einer Klasse in der Schule. Nein, zwischen denen bleibt teilweise kein Stuhl frei – jeder Stuhl ist besetzt. Es sind zu viele Lehrkräfte krank, als dass es anders ginge. Die Kinder tragen dabei auch erst seit letztem Donnerstag wieder verpflichtend Masken. Ab kommender Woche soll dann wie im Frühjahr die Hälfte der Klasse in Präsenz, die andere über Video unterrichtet werden. Das bedeutet für mich doppelte Arbeit, aber zumindest einen weniger vollen Klassenraum.
Ich muss sagen, dass ich langsam große Sorge habe, mich anzustecken. An unserer Schule gab es schon einige Fälle, in der Region gibt es insgesamt sehr viele. Es lässt sich in der Schule kaum Kontakt vermeiden, auch wenn sich alle um Abstand bemühen und Masken tragen. Zu Beginn des Schuljahres sollten wir noch dauerlüften. Das dürfen wir nicht mehr, da sich die Eltern beschwert haben. Eigentlich möchte ich gerne durchgehend mit offenem Fenster unterrichten. Ich weiß, das geht nicht, wenn es Winter und bitterkalt ist – aber solange die Schüler*innen noch keine Jacken tragen, könnte man das auch durch wärmere Kleidung möglich machen. Eine Tücke hat das Lüften aber natürlich: Man verkühlt sich tatsächlich schneller. Und bei jedem Hüstelchen fragt man sich dann: Hab ich Corona?
Im Kollegium geht es den meisten wie mir. Einige sind zwar entspannt, fahren in den Urlaub oder zu Familienfeiern. Viele nehmen es aber sehr genau, haben Angst vor dem Virus. Einige wenige können kaum mehr arbeiten, weil sie panisch sind, wenn mal eine Maske unter die Nase rutscht. Sie haben kranke Kinder oder Eltern zu Hause, die sie nicht gefährden wollen. Diese Lehrkräfte wollen derzeit auch eigentlich wirklich nicht unterrichten, sie fühlen sich dem Infektionsgeschehen ausgesetzt.
Ich fühle mich – wie viele andere auch – durch den Staat nicht gut geschützt. Dabei weiß ich, dass er nicht so viel besser machen kann. Es ist einfach eine wirklich schwierige Situation. Ich finde aber, zumindest die Kommunikation müsste besser sein: Allein schon beim Regelwerk. Es ist schwer, sich an Regeln zu halten, die sich ständig ändern – und die nicht eindeutig und übersichtlich kommuniziert werden.
Gegen die Angst vieler Menschen könnte man übrigens auch im Privaten helfen: einfach, indem man mehr Rücksicht nimmt. Ich finde große Familienfeiern oder Partys gerade einfach nicht gerecht, oder wenn Leute die Hygieneregeln nicht einhalten. Es bringt die Menschen in Gefahr, die in Schulen, Krankenhäusern oder Läden arbeiten. Diejenigen eben, die nicht die Chance haben, sich beim Arbeiten sozial zu isolieren.
Wir beispielsweise haben eben mit Kindern zu tun und die tun oft, was sie wollen. Gerade die Jugendlichen treffen sich viel mit anderen und gehen auch noch feiern, wie ich immer wieder mitbekomme. Ich verstehe sogar, dass sie das Bedürfnis danach haben – aber sehe eben auch, dass das mich und andere Lehrkräfte gefährden kann.“
„Mit einem einzigen Covid-Patienten ist eine Pflegekraft eigentlich den ganzen Tag beschäftigt“
Kathrin, 39, ist Pflegekraft auf einer Intensivstation in NRW. Außerdem studiert sie Pflegewissenschaften und hat einen Podcast, in dem sie über ihren Beruf aufklärt.
„Aufgrund des Pflegenotstands arbeiten wir sowieso immer am Anschlag. Auf der Intensivstation muss das gesamten Team ständig abwägen: Wer von den Patienten ist weniger intensivpflichtig, stabil genug und kann verlegt werden? Die Corona-Pandemie kommt auf unsere ohnehin enorme Arbeitsbelastung oben drauf. Normalerweise versorgt eine Pflegekraft tagsüber zwei Patienten. Als die Pflegepersonal-Untergrenzen wegen des Coronavirus ausgesetzt wurden, waren es dann auch mal vier oder fünf. Dabei brauchen die Patienten auf der Intensivstation deine komplette Aufmerksamkeit. Gerade Covid-Patienten sind enorm behandlungsbedürftig.
Ich hatte letztens eine Patientin, die morgens noch fit wirkte, aber deren Situation sich innerhalb von zwei Stunden so eklatant verschlechterte, dass sie an die Beatmungsmaschine musste. Mit einem einzigen Covid-Patienten ist eine Pflegekraft eigentlich den ganzen Tag beschäftigt. Wenn da noch weitere hinzukommen, wirkt sich das auf die Überlebenschance aus. Es gibt mittlerweile auch Studien, die belegen: Pflegepersonalmangel tötet Menschen.
Früher konnte ich mich nach einem langen Arbeitstag noch psychisch distanzieren. Jetzt nicht mehr, die zusätzliche Belastung durch die Pandemie macht einen kaputt. Ich weiß, dass ich den Anforderungen, die die Patienten verdienen, nicht gerecht werden kann. Wenn wir in Deutschland die Pflege in den vergangenen 20 Jahren nicht kaputtgespart hätten, könnte man heute vielleicht sagen: Lass die Pandemie kommen, wir kriegen das gewuppt. Aber so ist es nicht: Das gesamte Gesundheitssystem müsste umgekrempelt werden. Man müsste humanere Arbeitszeiten schaffen und uns auch besser bezahlen. Ich habe ehemalige Kolleginnen und Kollegen, die jetzt bei Lidl und Aldi an der Kasse arbeiten und das Gleiche verdienen wie damals als Pflegekraft. Als uns die Geldprämie von der Regierung in Aussicht gestellt wurde, wussten wir eigentlich schon, dass nichts passieren wird. Auch die 100 Millionen, die es nun geben soll, werden uns – auf alle Pflegekräfte verteilt – nur noch mehr spalten.
Gerade würde ich mir strengere politische Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wünschen. Wir haben die Kapazitäten im Gesundheitswesen schlicht nicht, um mit der Pandemie entspannt umzugehen. Ich wünsche mir weniger Egoismus und mehr Rücksichtnahme.“
„Wenn das hier vorbei ist, dann habe ich keine Lust mehr, im Gesundheitswesen zu arbeiten“
Mira, 25, arbeitet als medizinische Fachangestellte.
„Ich weiß, dass ich mich irgendwann anstecken werde. Mittlerweile bin ich an dem Punkt, dass ich das akzeptiert habe. Ich arbeite in einer Notdienstpraxis, wir haben geöffnet, wenn die anderen Praxen geschlossen haben: abends und am Wochenende. Derzeit können die Leute nicht einfach so in die Praxis kommen, sie müssen klingeln und draußen warten, um den Schutz so gut wie möglich zu gewährleisten. Abstand halten ist dabei draußen auch nicht immer möglich, so viel Platz ist vor unserer Praxis nicht. Eine Kollegin oder ich müssen dann rausgehen und schauen, wieso die Menschen da sind. Gerade tragen wir keine Schutzkleidung, sondern nur eine FFP2-Maske. Ich fürchte dabei, dass auch Menschen zu uns kommen, die positiv auf Corona getestet wurden, weil sie wegen anderer Probleme Hilfe brauchen. Natürlich sagt aber niemand, dass er oder sie positiv ist, wenn wir fragen.
Wir desinfizieren gerade deutlich mehr als sonst und lüften ständig. Viel mehr können wir eigentlich nicht tun. Die meisten Patient*innen halten sich an die Regeln. Aber es gibt auch immer wieder Leute, die die Maske nicht oder nicht richtig tragen oder die den Abstand nicht einhalten. Das ist eine hohe psychische Belastung für mich und meine Kolleg*innen. Ich habe deutlich mehr gearbeitet in den vergangenen Monaten, teilweise doppelt so viel wie sonst. Jetzt gerade habe ich meine Stunden wieder reduziert. Doch sobald die ersten aus dem Team in Quarantäne sind, wird es wieder mehr werden. Unser Team ist so klein, wir merken sofort, wenn jemand fehlt.
Natürlich beeinflusst meine Arbeit auch meinen Kontakt zu anderen. Ich bin immer extra vorsichtig, weil ich eine Gefahr für andere bin. Ich hab im Oktober das erste Mal seit Monaten meine Familie gesehen. Wenn man sich anschaut, wie viele Menschen sich gerade wegen der Einschränkungen beklagen, dann fühlt es sich an, als würde mir jemand ins Gesicht spucken. Niemand von uns wollte während einer Pandemie arbeiten, jetzt ist es eben passiert. Eigentlich macht mir die Arbeit Spaß, aber gerade ist sie sehr ermüdend. Wenn das hier vorbei ist, dann habe ich keine Lust mehr, im Gesundheitswesen zu arbeiten. Die Arbeit wird nicht wertgeschätzt. Ich verstehe nicht, dass Leute immer noch Partys feiern und viele Freund*innen treffen. Ich sehe, wie schlecht es Menschen geht, die sich mit Corona infiziert haben, und gleichzeitig sehe ich Menschen, die sich nicht etwas zurücknehmen wollen zum Wohle anderer. Das System der Eigenverantwortung funktioniert nicht. Ich würde mir wünschen, dass sich alle in der Gesellschaft etwas zurücknehmen.“
„Ich fühle mich sicherer als zum Beispiel im März“
Theresa ist 23 Jahre alt und macht ein duales Studium im Einzelhandel in Baden-Württemberg.
„Es macht mir keine Angst, dass die Zahlen wieder steigen, weil ich glaube, dass wir viel aus der ersten Welle lernen konnten. Bei uns im Einzelhandel hat sich durch die Pandemie schon viel verändert. Vor Corona haben wir Wert auf einen engen Kundenkontakt gelegt. Das geht jetzt nicht mehr, weil man zum Beispiel nicht einfach zur Kundin hingehen und die Bluse aus der Hose nehmen kann. Außerdem kann man manche Dinge nicht mehr so schnell erledigen, wie zum Beispiel Ware aus dem Lager holen, weil man durch das ständige Masketragen weniger Luft bekommt. Außerdem sind wir in Kurzarbeit geschickt worden.
Gute Kommunikation ist jetzt umso wichtiger – auch mit den Kund*innen. Wir müssen den Kund*innen erklären, dass sie nicht den Service erwarten können, den sie gewohnt sind. Es kommt auch häufig vor, dass wir Kund*innen darauf hinweisen müssen, die Maske ordentlich aufzuziehen. Viele haben dafür Verständnis und zeigen Empathie. Aber es gibt auch welche, die sich unverschämt verhalten. Die gibt es im Einzelhandel aber immer – ob mit oder ohne Corona.
Obwohl die Corona-Krise den Einzelhandel schwer getroffen hat und die wirtschaftlichen Folgen enorm sind, sehe ich darin auch Chancen: Es wird sich sehr bemüht, den E-Commerce im Einzelhandel auszubauen, was auch für die Zukunft wichtig ist. Zum Beispiel gibt es jetzt eine Stilberatung, die online stattfindet.“
„Ich biete oft an, dass ich das Paket ohne Kontakt unten in den Flur lege“
Florian ist 22 und arbeitet als Fahrrad-Paketbote in Konstanz.
„Weil ich meinen Job in der Gastronomie wegen Corona verloren habe, arbeite ich seit ungefähr einem Monat als Paketzusteller. Als Student ohne Berufsausbildung sind das nunmal zwei der wenigen Optionen, die man hat, um nebenbei Geld zu verdienen. Jetzt gerade bin ich aber eigentlich ganz zufrieden mit dem Job. Wenn ich Geschäfte beliefere, muss ich die Maske anhaben. In Privathaushalten ist es Abwägungssache. In vielen Häusern hat es sich so etabliert, dass ich klingle und anbiete, dass ich das Paket ohne Kontakt unten in den Flur lege. Das funktioniert eigentlich ganz gut. Die meisten finden okay, dass ich nicht für jedes Paket in den vierten Stock laufe.
Täglich liefere ich um die 100 Pakete aus, die sich im Schnitt auf 80 Haushalte verteilen. Dafür brauche ich fünf bis sechs Stunden. Eines der größten Probleme, mit denen ich mich konfrontiert sehe, ist die Sorge um die eigene Gesundheit. Ich fühle mich zwar nicht unsicher, weil ich die Maske trage. Der Kontakt mit Menschen bei der Lieferung ist aber natürlich nicht optimal – Ich wüsste allerdings auch nicht, wie es anders funktionieren sollte. Morgens werden die Pakete von einem Lastwagen in Containern geliefert. Das ist der einzige Kontakt, den ich zu Kollegen habe, ich kriege also wenig von ihnen mit. Dass die Infektionszahlen wieder so stark angestiegen sind, macht mir persönlich schon ein mulmiges Bauchgefühl. Ich versuche, es im Job weitestgehend auszublenden, Maske zu tragen und Abstand zu halten. Von anderen Menschen wünsche ich mir gerade, dass sie auch mehr auf die Sicherheitsmaßnahmen achten. Damit sie selbst nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung werden.“