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Introvertiertheit während Corona: Wenn sich durch die soziale Isolation für einen nichts ändert
Keine Barbesuche, keine Clubnächte, keine Shoppingtouren.
Mehr als einen Meter Abstand zu anderen halten und niemanden einfach so anfassen.
„Rausgehen“ bedeutet im Supermarkt einkaufen – und sich fragen, ob einen der Kassierer heimlich verurteilt für das, was auf dem Band liegt. Die Maßnahmen, die derzeit von der Bundesregierung empfohlen werden und bei der Eindämmung der Corona-Pandemie helfen sollen, nehmen viele als ärgerliche Einschränkung wahr. In meinem Leben ändern sie – nichts.
Denn ich zähle mich zum introvertierten Teil der Bevölkerung. Ob wir ein Viertel, ein Drittel oder die Hälfte der Gesellschaft ausmachen, ist unklar. Nur, dass wir anders sind – anders als Extrovertierte, da sind sich alle einig. Unsere Aufmerksamkeit und Energie richtet sich stärker nach innen als auf das äußere Geschehen – was nicht bedeutet, dass wir nichts von draußen mitbekämen. Im Gegenteil: Nach einiger Zeit haben wir sogar so viel an Eindrücken, Sinnesreizen, Ideen, Stimmungen, Emotionen und Informationen aufgesogen, dass es uns müde macht und wir dringend in eine Umgebung müssen, in der weniger los ist. Damit unser Inneres Platz zum Austoben hat. So kommt es, dass mein reguläres Leben als introvertierter Mensch ziemlich ähnlich aussieht wie die derzeit empfohlene Selbstisolierung in der Corona-Krise.
Wenn mir jemand in der U-Bahn zu nahe rückt, fühle ich mich unwohl – ob die Person hustet oder nicht. Wenn ich nach Dienstschluss vom Großraumbüro aus zu einem Treffen ins Café fahren soll, ist das für mich ein Außentermin. Will heißen: Solche Aktivitäten kosten mich genauso viel Kraft, wie sie mir geben. Und wenn ich Artikel wie „So geht gutes Home Office“ sehe, muss ich so erstaunt grinsen wie Extrovertierte über „So überwinden Sie ihre Schüchternheit im Job“. Just do it, oder?
Für uns Leisetreter, Mauerblümchen und Kellerkinder schlägt nun die Stunde
Wer eigentlich einst beschlossen hat, dass wir Introvertierten nicht so „schüchtern“ sein und leben sollen wie Extrovertierte, weiß ich nicht. Aber ich merke, dass sich die Logik nun umdreht: Fürs Erste müssen wir alle leben wie Introvertierte – zum Schutz derer, für die das Coronavirus weder soziale Herausforderung noch Lifestyle-Experiment ist, sondern eine lebensgefährliche Bedrohung.
Für uns Leisetreter, Mauerblümchen und Kellerkinder schlägt nun die Stunde: Denn mit diesem Leben kennen wir uns aus. Viele Extrovertierte empfinden die Vorsichtsmaßnahmen als Einschränkungen. Für uns sind dadurch eher Einschränkungen weggefallen – jetzt, da plötzlich immer weniger Meetings abgehalten werden, die man doch vorher schon längst durch Emails hätte ersetzen können. Denn das life in remote belohnt unsere Stärken, die Coronakrise zwingt uns alle, introvertierter zu denken. Während es vielen schwerfällt, ihre sozialen Kontakte auf ein Minimum zu beschränken, freuen wir uns über die gute Ausrede. Und während einige Extrovertierte befürchten, sich in Quarantäne gegenseitig auf die Nerven zu gehen, haben wir meist sowieso nur die Nähe von Menschen gesucht, mit denen wir es im Ernstfall auch wochenlang in Quarantäne aushalten würden.
Wir können oft besser per Email oder in ellenlangen Chatmessages kommunizieren als im direkten Kontakt. Unsere Angst vor Missverständnissen, die viele auf Distanz und schriftliche Nachrichten zurückführen, hält sich in Grenzen: Dass manches lost in translation bleibt, sind wir eher vom mündlichen Austausch gewohnt und wählen unsere Worte deshalb genau. Das geht bei Emails viel leichter als bei realen Treffen.
Da das Leben nach Extrovertierten-Regeln uns Introvertierte schnell ermüdet, haben wir auch perfektioniert, was viele erst jetzt durch social distancing tun: Entscheiden, welche Aspekte sozialen Umgangs wirklich wichtig sind - und wie viel man auch einfach weglassen kann, ohne dass am Eigentlichen etwas fehlt. Ein Beispiel: Es ist oft wichtig, dass alle Leute in einem Team dieselbe Information bekommen. Aber unwichtig ist dabei, ob dafür alle im selben Raum versammelt sind. Nötig ist, dass ich einer geschätzten Person meine Sympathie zeigen kann. Unnötig ist, sie dabei an meinen Brustkorb zu drücken. Und so weiter.
Und auch eine vorübergehende Zeit ohne Partygetümmel oder Restaurantlärm ist für uns kein Verlust. Denn Spaß ist nicht nur dann Spaß, wenn ihn andere bezeugen können! Ich selbst habe in Großraumdiscos oft wenig davon – dabei tanze ich total gern und kann eine erstaunliche Anzahl Pop- und Rapsongs auswendig mitrezitieren. In meinem Zimmer. Mit Kopfhörern. Übrigens: Wer mal in völliger Dunkelheit ausgestreckt Musik gehört hat, braucht an diesem Abend keinen anderen Nervenkitzel mehr. Versucht es mal.
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