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Junge Ärzte üben freiwillig Abtreibungen an Papayas

Fotos: freepik / Collage: Daniela Rudolf

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„Und dann fängst du an, mit so Drehbewegungen die Schwangerschaft abzusaugen.“ Christiane Tennhardt macht eine nüchterne Schraubgeste mit der rechten Hand, mit der linken hält sie eine imaginäre Absaugspritze. Am Tisch vor ihr sitzt Medizinstudentin Marta, 22, und macht die Bewegung nach. Mit einem splotzenden Geräusch flutscht orange-rotes Gewebe durch den Plastikschlauch in ihrer Hand. Der hängt an einer echten Spritze – allerdings nicht an einer echten Gebärmutter. Auf den grünen OP-Tüchern, die wie Tischdecken im Seminarraum drapiert sind, liegen keine narkotisierten Frauen, sondern Obst und Gemüse. Genauer gesagt: Papayas und Fleischtomaten. Und Marta zieht durch ihre Spritze keinen Embryo, sondern Fruchtfleisch und Kerne einer Papaya.

An diesem Montagabend im November findet in der Berliner Charité zum wiederholten Mal der „Papaya-Workshop“ statt, bei dem erfahrene Gynäkologinnen wie Tennhardt Studierenden anhand der gelbgrünen Früchte beibringen, wie man einen Schwangerschaftsabbruch per Absaugung durchführt. Organisiert hat ihn allerdings nicht die Uni selbst, sondern eine kleine Gruppe Medizinstudentinnen, die „Medical Students For Choice“ (MSFC). Ihr Motto: „Lernt, was euch die Uni nicht lehrt“, ihr Ziel: das Thema Abtreibung zum Teil des Lehrplans im Medizinstudium machen. Denn selbst hier an der Charité, dem größten Uniklinikum Europas, sind Schwangerschaftsabbrüche kein Teil der Ausbildung für Mediziner. Ein Eingriff, der in Deutschland allein im Jahr 2017 mehr als 100.000 Mal durchgeführt wurde, wird im Curriculum des Medizinstudiums schlichtweg nicht unterrichtet. Wer heute Abend hier ist, kommt freiwillig und aus Interesse. Einen Schein gibt es dafür nicht.

Das ist Symptom eines größeren Problems. Es gibt immer weniger Ärzte in Deutschland, die Abtreibungen durchführen. 2003 waren es noch 2000 Praxen und Kliniken, inzwischen ist die Zahl auf 1200 gesunken. Das ist ein Rückgang von 40 Prozent. Frauen, die ihre Schwangerschaft beenden wollen, müssen also immer weitere Strecken zurücklegen – wenn sie überhaupt wissen, wo sie Hilfe finden. Denn: Ärzte dürfen nicht öffentlich darüber informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen, das ist in §219a des Strafgesetzbuchs so festgeschrieben. Der Bundestag streitet derzeit über eine Reform dieser Regelung.

Dass die medizinische Versorgung bei ungewollten Schwangerschaften so schlecht ist, hängt auch damit zusammen, dass die moralische Debatte darüber auch im Jahr 2018 immer noch tobt. Im katholischen Münster ist der einzige Abtreibungsarzt im Rentenalter, ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Kein Wunder: Militante Abtreibungsgegner machen Stimmung gegen ihn und andere, die Abbrüche durchführen; Ärzte werden teils angezeigt und sogar bedroht. Dazu kommt die paradoxe Regelung, dass in Deutschland nicht nur die Werbung für Abbrüche im Strafgesetzbuch steht, sondern auch die Abtreibung selbst.

Ein Schwangerschaftsabbruch ist gesetzlich verboten – und wird gleichzeitig unter bestimmten Auflagen gestattet: Wenn die Frau kein Kind austragen kann oder will, muss sie nachweisen, dass sie zu einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle (zum Beispiel ProFamilia) gegangen ist und anschließend eine dreitägige Bedenkfrist eingehalten hat. Während der ersten zwölf Wochen nach der Befruchtung ist ein Schwangerschaftsabbruch dann straffrei. Diese zeitliche Regelung gilt auch bei Schwangerschaften in Folge einer Vergewaltigung. Ein dritter Sonderfall ist die medizinische Indikation, wenn „eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes“ der Schwangeren besteht, beispielsweise bei einer schweren Behinderung des Fötus; dann ist eine Abtreibung auch später erlaubt.

Beim Papaya-Workshop geht es vor allem um den ersten Fall, also einen Abbruch im ersten Schwangerschaftstrimester. Er beginnt mit einem Theorieteil, wo nochmal im Schnelldurchlauf die Anatomie des weiblichen Beckens erklärt wird, denn nicht alle im Raum sind auf demselben Stand. Christiane Tennhardt, eine hochgewachsene Frau mit grauem Stufenschnitt und Perlenkette, erläutert das Ganze erstmal per Powerpoint. Welche Methoden gibt es (medikamentös oder operativ), wann werden welche Medikamente eingesetzt, um den Muttermund weich zu machen oder Schmerzen zu lindern – und wie stark darf eine Frau ohne Komplikationen eigentlich bluten?

Die 25 Teilnehmer hören konzentriert zu, viele schreiben mit, immer wieder stellen sie Zwischenfragen. Die drängendste: Jede Gebärmutter ist anders, manche machen einen Knick nach hinten. Wie kommt man da ran, ohne die Frau zu verletzen? „Strecken”, sagt Tennhardt trocken und hält eine schmale Zange hoch. „In einem krummen Uterus kannst du nicht arbeiten.“ Sie macht vor, wie man die Form auch ohne Ultraschall mit den Fingern ertasten kann. Im grellen Neonlicht auf den mit Folie abgedeckten Schreibtischen liegen kleine, OP-grüne Päckchen wie Geschenke verschnürt. Das gynäkologische Operationsbesteck hat Tennhardts Kollegin Gabriele Halder aus dem Familienplanungszentrum mitgebracht, in dem sie arbeitet; die Charité stellt nur den Raum, der auch tagsüber ein Seminarraum der Gynäkologie ist, nur eher mit dem Fokus auf vollendete Schwangerschaften. In einer Ecke des Raums steht ein Geburtssimulator, abgedeckt mit einem Tuch, in der anderen ein Gynäkologenstuhl.

Bislang sind sie nur zu zehnt, aber ihre Arbeit stößt auf großes Interesse

Papayas eignen sich besonders gut, um Schwangerschaftsabbrüche zu üben. Ihre Form ähnelt der eines menschlichen Uterus, und Kerne und Fruchtfleisch lassen sich durch den spitz zulaufenden Hals der Frucht absaugen wie durch einen Gebärmutterhals. Sie als Modell zu benutzen, ist keine Berliner Erfindung, sondern kommt aus den USA. Dort haben auch die MSFC längst zehntausende Mitglieder; der Berliner Ableger ist der erste in Deutschland. Bislang sind sie nur zu zehnt, aber ihre Arbeit stößt auf großes Interesse: Der Raum ist brechend voll, auch mehrere Kamerateams sind da, und längst nicht alle Studierenden, die gerne kommen wollten, haben es von der Warteliste in den Workshop geschafft.

In der Praxisphase herrscht angespannte Ruhe. Das Gewebe einer reifen Papaya ist ähnlich weich und empfindlich wie das im Uterus einer schwangeren Frau. Marta, neuntes Semester, und ihre Kommilitonin Angelique, die im achten Semester ist, kämpfen mit der schmalen Zange, mit der sie den „Muttermund“ festhalten sollen, den sie dann zügig mit immer größer werdenden Metallstäben dehnen, bevor er sich wieder zusammenzieht. „Drehen, bis zu 20 Sekunden drinlassen, und dann schnell den Schlauch rein. Und aufpassen, dass ihr nicht durchstecht“, mahnt Christiane Tennhardt. Auch deshalb sei die Papaya-Schulung wichtig, sagt sie: „Man übt, vorsichtig mit den Instrumenten umzugehen, damit man nicht die Wand perforiert.“ Eine solche Verletzung, hatte die Ärztin vorab erklärt, sei eines der Risiken eines nichtmedikamentösen Abbruchs – wenngleich es bei der Absaugung im Vergleich zu der inzwischen veralteten Ausschabung geringer sei.

Das Absaugen selbst sieht gar nicht so schwer aus, tatsächlich wie ein Handwerk, das man an einem Abend lernen könnte. Vor allem scheint man Kraft zu brauchen. Marta packt die Spritze, die so lang ist wie ihr Unterarm, und muss sich richtig zurücklehnen, um sie auseinanderzuziehen. Als es dann nahezu perfekt klappt und alles auf einmal rausflutscht, recken alle bewundernd die Hälse. Wie merkt man, ob das ganze Schwangerschaftsgewebe entfernt ist? „Man spürt irgendwann, ob noch was kommt“, sagt Angelique. Letztlich ist es wohl eine Frage der Routine. Etwa 40, 50 solcher Schwangerschaftsabbrüche muss man durchgeführt haben, um gut darin zu sein, sagt Christiane Tennhardt. Echte, wohlgemerkt. „Ihr werdet es nach diesem Workshop nicht können“, sagt sie mit Nachdruck. „Aber ihr bekommt zumindest mal einen Eindruck.“

„Das Thema Schwangerschaftsabbruch wurde nur am Rande einer Vorlesung mal behandelt“

Die „Ärztinnen pro choice“ sind an diesem Abend ehrenamtlich hier. Sie wollen sicherstellen, dass auch in Zukunft jemand die „Mordsverantwortung“ des ärztlichen Umgangs mit ungewollten Schwangerschaften übernimmt, wie Gabriele Halder es formuliert. Sie und ihre Kolleginnen organisieren in den Workshops quasi ihr Erbe, die Studierenden ihre Zukunft. Dabei wollen gar nicht alle Frauenärzte werden. Alex, 24, ist einer der wenigen Männer im Workshop. „Gynäkologie ist eigentlich gar nicht so meins“, sagt er. „Aber es kann trotzdem wichtig sein, das hier zu lernen.“ Er möchte später in die Einsatzmedizin und kann sich vorstellen, in Entwicklungsländern zu arbeiten. „Da spielen ungewollte Schwangerschaften noch mal eine ganz andere Rolle als in Deutschland.“

Marta dagegen weiß noch nicht, in welche Richtung sie gehen wird. Für sie ist es eine Prinzipienfrage, sich auch mit dem Thema Abtreibung zu beschäftigen, und sie ärgert sich über die Lücke im Lehrplan: „Wir müssen ganz viele spezifische Sachen in der Onkologie lernen, die wir höchstwahrscheinlich nie brauchen werden. Aber das Thema Schwangerschaftsabbruch wurde nur am Rande einer Vorlesung mal behandelt“, sagt sie. „Auch sonst unterhält man sich vor allem unter Kommilitoninnen oder im privaten Umfeld über das Thema.“ Angelique hat immerhin schon ein Praktikum in der Gynäkologie gemacht und bei einigen Schwangerschaftsabbrüchen zugeschaut. Wollen die beiden jetzt noch weiterlernen, müssen sie in die Facharztausbildung gehen – so haben auch die anwesenden Gynäkologinnen den Eingriff gelernt. Aber selbst da kommt es noch mal ganz auf die Einrichtung an, ob Schwangerschaftsabbrüche gelehrt werden oder nicht.

„Frauen, die abtreiben wollen, finden Mittel und Wege, das zu tun"

Erstmal, sagt Marta, komme passenderweise genau in dieser Woche die einzige Lehreinheit dran, in der Schwangerschaftsabbrüche in ihrem Studium überhaupt eine Rolle spielen. Allerdings nur am Rande: Es geht um Pränataldiagnostik, also um die Früherkennung von Krankheiten eines ungeborenen Kindes, und der Abbruch spielt dabei nur eine Rolle als ethisches und rechtliches Problem – zehn Minuten lang, am Ende der Vorlesung, wie die MSFC-Vertreterinnen berichten. Ein Blick auf die Statistik zeigt, wie sehr diese Gewichtung an der Realität vorbeigeht: Aus medizinischen Gründen wurden 2017 nur knapp 4.000 Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt; im Rahmen der Beratungsregelung, also innerhalb der ersten drei Monate unabhängig von medizinischen Fragen, waren es 97.000.  Ab Sommersemester 2019 soll es an der Charité nun ein Seminar namens „Rechtliche Voraussetzungen und gesellschaftspolitische Implikationen des Schwangerschaftsabbruchs“ und eine dazugehörige Vorlesung geben. Um das praktische Erlernen der Methoden geht es dabei offenbar immer noch nicht – aber es ist ein Anfang.

Die Nachfrage von Frauen, aus welchen Gründen auch immer selbst über den Fortgang ihrer Schwangerschaft zu entscheiden – genau das ist ja mit pro choice gemeint –, ist nach wie vor da. Es fehlen nur zunehmend die Mediziner, die sie auch im Fall einer Entscheidung zum Abbruch behandeln. Und es leuchtet ein, was Christiane Tennhardt bei ihrem Vortrag am Anfang gesagt hat: „Frauen, die abtreiben wollen, finden Mittel und Wege, das zu tun. Man darf nicht vergessen: Mit dem, was ihr hier lernt, könnt ihr im Zweifelsfall Leben retten.“

Wenn man mal einen Abtreibungsversuch an einer Papaya gesehen hat, dann weiß man jedenfalls: Auf die Methodik kommt es an. Und im Fall der Fälle möchte man als Frau natürlich lieber von jemandem operiert werden, der darin möglichst viel Übung hat. Selbst dann, wenn die Patientin davor nur ein Stück überreifes Obst war.

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