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Wieso es so schwer ist, die eigenen Eltern altern zu sehen

Wenn man seine Eltern altern sieht, kann das ziemlich wehtun.
Illustration: FDE

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Wir stehen in einem Kaufhaus. Früher waren wir jeden Samstag hier. Meine Mutter wirkt zwischen den Kleiderständern etwas verloren. „Ich setze mich mal hin!“, sagt sie und schlurft zu einer Sitzecke. Als sie sich erleichtert neben Magazinen in einen Samtsessel fallen lässt, spüre ich einen Stich im Herzen. Die Shopping-Touren mit meiner Mutter sind anstrengender geworden. Anstrengend für sie, weil sie immer öfter Ruhepausen braucht, und anstrengend für mich, weil ich realisieren muss, dass meine Mutter sich verändert hat. Sie ist älter geworden.

Ich sage lieber „älter geworden“ statt „alt geworden“, weil sich das für mich falsch anhört. Meine Mutter ist keine Greisin. Sie ist nur ein bisschen in die Jahre gekommen. Ich habe lange versucht, das zu ignorieren, aber jetzt sind die Anzeichen so deutlich, dass ich mich damit auseinandersetzen muss. Es fing schleichend an. Dinge, die meine Eltern, früher gerne gemacht haben, machen sie nicht mehr oder viel seltener. Abends ausgehen, Wochenend-Städte-Trips, lange Reisen. Ihr Leben ist in den vergangenen Jahren ruhiger und langsamer geworden. Ich merke auch, dass sie öfter Hilfe benötigen, zum Beispiel bei der Bedienung ihrer Smartphones oder bei größeren Einkäufen. 

Seitdem ich bewusst wahrgenommen habe, dass meine Eltern altern, begleitet mich ein bestimmtes Gefühl. Das Gefühl, dass mir nicht mehr viel Zeit mit ihnen bleibt. Und ich bin damit nicht allein: In Gesprächen mit Freund*innen und Bekannten höre ich immer öfter, dass es ihnen ähnlich geht. 

Tatsächlich haben viele Menschen aus meiner Generation ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Laut der Shell-Jugendstudie geben 42 Prozent der 12- bis 25-Jährigen an, bestens mit ihren Eltern auszukommen. 50 Prozent der Befragten kommen immerhin „gut“ mit ihren Eltern aus. Dabei ist natürlich keine Eltern-Kind-Beziehung gleich. Manche meiner Freund*innen fahren jeden Sonntag nach Hause. Andere rufen täglich an. Wieder andere besuchen ihre Familie nur an Feiertagen. Mama und Papa, das sind eben im besten Fall nicht nur Erzeuger*innen, sondern auch wichtige Bezugspersonen. Ich hatte unglaubliches Glück, meine Eltern rufen nur positive Gefühle in mir hervor. Sie gaben mir Sicherheit und Wärme und waren immer zur Stelle, wenn ich Probleme hatte.

Ihr Altern bedeutet, dass ich irgendwann einen Safe Space verliere

Ich habe ihnen auch viel zu verdanken. Sie haben als syrische Einwanderer in Deutschland alles dafür getan, dass ihre Kinder ein gutes Leben haben. Dazu zählte, dass wir an allem teilnehmen konnten, was zu einer deutschen Kindheit gehört, auch wenn das manchmal aus kulturellen oder finanziellen Gründen schwierig war: Kindergeburtstage, Museumstouren, Klassenfahrten, christliche Gottesdienste. Ich war sogar bei der Kommunion meiner Mitschüler*innen dabei, obwohl ich keine Christin bin. 

Meine Eltern haben mich behutsam durch eine Gesellschaft manövriert, die für einen Menschen mit Migrationsgeschichte manchmal sehr herausfordernd sein kann. Sie gaben mir Sicherheit und brachten mir bei, Herausforderungen anzunehmen. Ein Beispiel: In der fünften Klasse fand eine Klassenfahrt nach Südtirol statt. Ich wollte damals aus Angst vor Heimweh und Rassismuserfahrungen nicht mitfahren. Stundenlang redeten meine Eltern auf mich ein und überzeugten mich, es doch zu tun. Ohne sie wäre ich sicher nicht gefahren. Diesen Rückhalt in Zukunft zu verlieren, schmerzt mich. Ihr Altern bedeutet für mich, dass ich irgendwann einen Safe Space* verlieren werde.

Mit dem Altern haben wir als Gesellschaft generell ein Problem. Wir wollen immer jung aussehen und forschen mit allen Mitteln daran, das Altern zu verlangsamen. Altern, das heißt nicht nur, die eine oder andere Falte im Gesicht zu haben. Altern bedeutet immer auch Verfall. Und Verfall führt irgendwann zum Tod. Das Altern eines Menschen macht deutlich, dass niemand unsterblich ist. 

Lange wollte ich nicht wahrhaben, dass meine Eltern älter werden

Natürlich habe ich nie gedacht, dass meine Eltern unsterblich sind. Aber es gibt einen Grund, warum wir uns ungern mit dem Altern unserer Eltern beschäftigen. Die Psychologin und Buchautorin Getrud Teusen begründet das im Gespräch mit der Caritas unter anderem damit, dass wir ein „inneres Kind“ in uns tragen. Dieses innere Kind verlässt sich Teusen zufolge auf die Eltern. Wenn sich diese Rollen vertauschen, wenn wir uns immer mehr um unsere gebrechlicher werdenden Eltern kümmern müssen, bedeutet das auch das Lösen von diesem inneren Kind. Teusen empfiehlt, sich klarzumachen, dass man immer das Kind seiner Eltern bleibt, nur eben nicht als Kind, sondern als erwachsene Person.

Lange wollte ich nicht wahrhaben, dass meine Eltern altern. Weil ich aber die Zeit weder zurückdrehen noch anhalten kann, habe ich irgendwann beschlossen, zu akzeptieren, dass wir alle alt werden. Das klingt banal, aber wenn man sich diesen Gedanken immer wieder vor Augen hält, fällt auf, wie wichtig es ist, zu verinnerlichen, dass nichts selbstverständlich ist. Ich habe dadurch gelernt – und lerne es immer noch – jeden Moment mit diesen geliebten Menschen zu schätzen. Ich freue mich, dass meine Eltern gesund sind und wir noch Zeit miteinander verbringen können. Warum sorgenvoll in die Zukunft blicken, wenn ich auch im Hier und Jetzt mit meinen Eltern glücklich sein kann? Ich wünschte nur, es würde mir jeden Tag gelingen, so zu denken.

*safe space = Als „Safe Space“ werden Räume und Räumlichkeiten bezeichnet, in die sich Menschen zurückziehen dürfen, die marginalisiert oder diskriminiert werden. (Quelle: www.bedeutungonline.de)

*Unsere Autorin möchte anonym bleiben, weil für sie ihre Beziehung zu ihren Eltern eigentlich sehr privat ist.

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