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Gesellschaftliches Engagement in Deutschland
„Da kommt mir beim Frühstück die Galle hoch, wenn ich das lese! Ich bezahle ein ‚Kopfgeld‘ in Höhe von 2.000,- € für den Namen und die Adresse von diesem Bastard!“ Kopfgeld? Was ziemlich martialisch klingt, war ein ernst gemeinter Aufruf. Der Berliner Sicherheitsdienstleister Michael Kuhr empörte sich. Es ging um den sogenannten „U-Bahn-Treter“ von Berlin. Auf einer Videoaufnahme war zu sehen, wie ein Mann eine Frau in den Rücken tritt. Sie fällt die Treppen herunter, bricht sich den Arm. Der Täter wurde mittlerweile gefasst, die Wut blieb.
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Michael Kuhr war nicht der Einzige, der den Täter finden wollte und dafür ein „Kopfgeld“ aussetzte. Ein Unternehmer aus Berlin, der anonym bleiben möchte, wollte 10 000 Euro spenden, 5 000 für das Opfer und 5 000 für den Hinweis auf den Täter. Schlagersänger Gunter Gabriel schaltete sich auch noch in die Debatte ein: „Hier ist der Erzengel, Schmerzengel Gabriel. Ich möchte 5 000 Euro spenden!“, soll Gabriel der Bild-Zeitung gesagt haben.
Til Schweiger ist ebenfalls dafür bekannt, sich in der deutschen Politik zu engagieren. Der Schauspieler hat die „Til Schweiger Foundation“ gegründet. Schweiger hat mit den Geldern bereits in einem Osnabrücker Flüchtlingsheim einen Raum, der ehemals eine Garage war, mit Fitnessgeräten ausgestattet. Im November eröffnete er eine Kindertagesstätte für Flüchtlinge.
Haben wir das Gefühl, der deutsche Staat tut zu wenig für die Sicherheit?
Woher kommt auf einmal das große Engagement? Haben wir das Gefühl, der deutsche Staat tut zu wenig für unsere Sicherheit? Denken wir, die Polizei versagt in ihrer Funktion? Oder ist das Ganze im Fall von Michael Kuhr und Til Schweiger der Versuch, Aufmerksamkeit zu bekommen und Macht zu demonstrieren? Und: Ist es am Ende doch nur Prominenten möglich, all die Lücken zu füllen, die der Staat hinterlassen hat?
Zivilgesellschaftliches Engagement sei kein unbedingt neues Phänomen, erklärt der Soziologe Sebastian Koos. Dazu komme es vor allem immer dann, wenn Menschen das Gefühl hätten, „eine Lücke zu füllen und Defizite beheben zu müssen“. Das Engagement ist je Land verschieden stark. So sind zum Beispiel die USA weniger Wohlfahrtsstaat als Deutschland, das gesellschaftliche Engagement ist dort also größer.
Warum in deutschen Städten trotzdem gefühlt immer mehr Bürgerwehren patrouillieren und es Leute wie Michael Kuhr gibt, die sich in die Polizeiarbeit einmischen, ist dem großen momentanen Unsicherheitsgefühl geschuldet. Als bedeutenden Einschnitt sieht Koos die Terroranschläge vom 11. September: „Seitdem hat sich das Angstdenken auch auf andere Lebensbereiche übertragen.“
Die Flüchtlingskrise wertet Koos ebenfalls als Einschnitt in unser Denken: Man ist mit einem Mal unmittelbar betroffen, betrachtet es nicht nur aus der Ferne. „Probleme bekommen dann eine andere Qualität“, erklärt Koos, der ein wachsendes Engagement in beide Richtungen beobachtet: Pegida-Kundgebungen könnten ebenso wie Spendenaufrufe als Formen von Engagement betrachtet werden.
Gesellschaftliches Engagement ist aber auch der politischen Nachfrage geschuldet, wachsamer zu sein. Bei Taten wie dem U-Bahn-Stoßer von Berlin wurde das Überwachungsvideo veröffentlicht, die Polizei bat um Mithilfe bei der Tätersuche. Da wundert es vielleicht nicht, wenn sich Einzelpersonen über die Staatsgewalt hinwegsetzen und einmischen.
Soziales Engagement kann einen Ansteckungseffekt haben
Die Aufforderung „Seid wachsam!“ ist nicht unbedingt etwas Neues. Neu ist, dass es heute mehr Plattformen gibt, sich gemeinsam zu engagieren. Soziale Netzwerke wie Facebook bieten den Bürgern die Möglichkeit, Veranstaltungen wie Demonstrationen zu organisieren, oder wie Kuhr ein „Kopfgeld“ auszusetzen. „Wie beispielsweise bei der Ice Bucket Challenge hat das soziale Engagement einen Ansteckungseffekt“, sagt Koos.
Sehr kritisch sehen sollte man in diesem Punkt aber Bürgerwehren, wie auch Koos betont: „Bürgerwehren schüren oft mehr Angst, als dass sie für ein größeres Sicherheitsgefühl sorgen würden.“ Ihnen haftet auch immer der Beigeschmack von Selbstjustiz und martialischem Aktionismus an.
Sicher, Kuhr hat sehr impulsiv gehandelt, die Wortwahl des „Kopfgelds“ ist fragwürdig. Man kann das als unreflektiert und als stark inszenierten Auftritt empfinden. Er kam damit in die Schlagzeilen, dem Bekanntheitsgrad seines Sicherheitsdienstes hat es sicher nicht geschadet. Aktionen wie Schweigers Stiftung haben da einen größeren gesellschaftlichen Mehrwert, denn sie haben einen langfristigen Effekt und fördern Projekte, die auch noch in der Zukunft Bestand haben.
Was man bei all dem aber nicht vergessen sollte: In Deutschland engagieren sich 14,3 Millionen Menschen ehrenamtlich, ohne ihre Taten auf Facebook zu posten oder damit in die Medien zu kommen. Projekte wie die Tafeln oder auch Flüchtlingshilfen basieren zu großen Teilen auf der Arbeit von Freiwilligen. Ohne sie würde unsere Gesellschaft auf Dauer nicht funktionieren.