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Warum ein Finne mir näher ist als meine Nachbarin

Timtoppik Photocase.com / Katharina Bitzl

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Wie die meisten Menschen habe ich Nachbarn. Meine Nachbarin ist eine ältere deutsche Dame. Nennen wir sie Frau Berger. Frau Berger liebt ihre Petunien, liest die FürSie, macht gerne Mittagsschlaf. Danach macht sie einen Braten für ihren Mann. Frau Berger und mich verbindet wenig. Nur unser Wohnort, unsere Staatsangehörigkeit und unsere Muttersprache. Also: die Lokalität. Sie ist unsere Gemeinsamkeit. Die einzige. 

Als ich in Barcelona war, für ein Praktikum, habe ich einen Haufen Leute aus ganz Europa kennen gelernt. Mit manchen bin ich heute noch befreundet. Wie mit diesem lustigen Finnen: ein großer Tänzer, ein noch größerer Geschichtenerzähler. Nennen wir ihn Tommy.

Mit Tommy befreundet zu sein ist, trotz tausender Kilometer zwischen uns, recht einfach. Wir schauen die gleichen Serien auf Netflix, hören die gleichen Mixtapes, machen uns die gleichen Sorgen wegen den Rechten und dem Klima. Uns trennen nur unser Wohnort, unsere Staatsangehörigkeit und unsere Muttersprache. Also: die Lokalität. Sie ist unser Gegensatz. Der einzige.

Dass Frau Berger und ich uns viel fremder sind als Tommy und ich, obwohl wir nebeneinander wohnen – woher kommt das? Und ist das gut?

"Never a Stranger", verspricht uns der Wohnungsvermittler Airbnb in einem Werbespot. "Then I met your friends", erzählt eine junge Frau darin einem imaginären Fremden, in dessen Wohnung sie wohnt. "They reminded me of my friends" sagt sie. "It felt like I have known them for years."

Es stimmt: Mit drei Klicks weiß ich, wo ich in Kopenhagen, Lissabon, Budapest hin muss, um Leute zu treffen wie mich. Die Frau in der Werbung hat einen Akzent, sie kommt von irgendwoher anders. Aber sie könnte genau so gut meine Freundin sein, hier wohnen, mit mir eine Stadt erkunden. "Distanz" ist nur eine Ansammlung von Stunden und Euros, die ich bereit bin zu investieren. Dann bin ich dort. Und die Distanz ist weg. Das bedeutet: Ich kann die Fremde dosieren. Und diese Fremde hat mit Kilometern wenig zu tun.

Frau Berger hingegen ist in einer Zeit aufgewachsen, zur Schule und Tanzen gegangen, als Deutschland und die Welt viel weiter auseinander lagen. Und die Welt an sich ganz anders schien. Der Amerikaner war gut, der Russe böse, der Italiener geduldet. Fast alle, die wichtig waren, waren Männer. Frau Berger bekam mit Anfang 20 ihr erstes Kind. Damit war sie erwachsen. Schuld war nicht Techno. Schuld war nur der Bossa-Nova.

Tommy und ich hatten eine sehr ähnliche Kindheit. Mit elf haben wir beide unsere erste Zigarette geraucht. Dann erschoss sich Kurt Cobain. Und als wir mit Anfang zwanzig wie alle ein halbes Jahr ins Ausland wollten, war Barcelona gerade in. Wir hatten beide den Erasmus-Kultfilm "Auberge Espanol" gesehen, natürlich im Original mit Untertiteln. Die offensive Verbrüderung des Helden mit den Internationals (und den Begriff "Kultfilm", den nur unsere Mütter benutzten) fanden wir zwar etwas peinlich. Oder halt ironisch doch wieder gut. Jedenfalls: Barcelona, das klang schon nach Spaß. Und auf Spaß waren wir aus. Schließlich würden wir früh genug erwachsen werden.

Frau Berger war da gerade am Ende ihrer kurzen Berufslaufbahn als Rechtsanwaltsgehilfin angekommen. Hatte zwei Kinder auf die Welt gebracht, groß gezogen, ausziehen sehen. Vielleicht sind die so wie Tommy und ich. Das weiß ich nicht. Weil ich ziemlich wenig über Frau Berger weiß. Wir reden nicht oft miteinander. Es gibt, außer dem Wetter, dem Haus und meinem manchmal mangelnden Respekt vor ihrem Mittagsschlaf, auch wenig zu reden. 

Neulich knallte ich die Tür ins Schloss. Einmal zu oft. Frau Berger schoss aus ihrer Tür direkt gegenüber. Das kleine Treppenhaus, an dem unsere beiden Wohnungen liegen, es war auf einmal sehr eng.

"Herr Karig, wo ich sie grad sehe," sagte sie freundlich, aber mit einem gewissen Etwas in der Stimme, "wie sie diese Türe schließen – das ist ein bisschen zu laut. Wir schlafen hier nachmittags direkt daneben. Und mein Mann braucht die Ruhe, sie wissen ja."

Ihr Mann hustete oft das halbe Haus zusammen, der Arme. Er braucht wirklich Ruhe.

"Entschuldigung, ich pass besser auf ab jetzt ", sagte ich. 

Dann ging sie die Blumen gießen. "Schönen Tag, Frau Berger," sagte ich artig. Dann schrieb ich Tommy, mit dem ich gerade auf Facebook am Chatten war: "Sorry. Had to deal with the lady next door. So what about that last episode of Fargo? Missed it, fuck." 

Facebook, Fargo, Fuck.

"Wenn sich innerhalb von zehn Jahren gefühlt alles ändert, geht die Kluft zwischen den Generationen auf. Und gleichzeitig die zwischen Oslo und München zu."

Kurz überlegte ich, ob ich Frau Berger das erklären könnte. Wüsste sie, was Facebook ist? Und: würde sie sowas interessieren? Ich glaube kaum. Sie und ich, wir sind uns fremd. Klar, einerseits weil sie eine ältere Dame ist, und ich ein fast noch junger Mann. Aber auch, weil sich die Welt um uns herum so schnell dreht. Wir haben wenig, woran wir uns gemeinsam festhalten können. Weil die Fliehkräfte alles dauernd neu ordnen.

Die letzten Jahrzehnte, mit großen Entwicklungen wie der Globalisierung und dem Netz und so, haben manche Menschen voneinander getrennt. Und andere einander näher gebracht. Wenn sich innerhalb von zehn Jahren gefühlt alles ändert, geht die Kluft zwischen den Generationen auf. Und gleichzeitig die zwischen Oslo, wo Tommy mittlerweile wohnt, und München zu. Ob Frau Berger so viele gleichaltrige Europäer kannte wie ich? Wahrscheinlich nicht. Dafür vielleicht ihre Nachbarin viel besser.

Bei mir um die Ecke ist eine Kneipe, eine Boazn, wie der Bayer sagt. Da hängen Gestalten ab, mir fremder als jeder Tommy, der weit weg wohnt. Frau Berger holt ihren Mann dort manchmal ab. Ich gehe da gerne auf ein Bier hin, ab und zu. Die trotz Rauchverbot dicke Luft zwischen Dartscheibe und Fußball-Schals, die riecht ein bisschen nach Urlaub. Dort bin ich fast ein Tourist. Jedenfalls fast genau so viel Tourist wie im Billigflieger nach Barcelona, für ein Wochenende in den Läden von damals, die es immer noch gibt. Die voller Erinnerungen stecken, genau wie die Dorfdisco der Kleinstadt, aus der ich komme. Wo Heimat und Fremde genau liegen, ist ziemlich egal, denke ich dann. Hauptsache es gibt sie. 

Entfernung ist heute kein Frage von Kilometern, sondern von Kultur. Und Kultur hat immer weniger mit Orten zu tun. Frau Berger und ich haben eine Kultur. Aber ansonsten trennen uns mehr Dinge, als uns einen. Das ist nicht schlimm, finde ich. Denn dafür könnten Tommy und ich Brüder sein. Das nennt man dann wohl Europa. 

Generation What  ist die größte europaweite Jugendstudie, die es je gab. Durchgeführt wird sie von einer Gruppe europäischer Rundfunksender, in Deutschland sind das der BR, der SWR und das ZDF. Erwartet werden etwa eine Million Teilnehmer aus ganz Europa.  Auch wir sind als Kooperationspartner daran beteiligt und begleiten die Studie mit Berichterstattung und  Geschichten.

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