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Wer in Polen vom LGBTQ-Hass profitiert
Wenn Yulia Krivich sich an den vergangenen Samstag erinnert, spürt sie vor allem eines: Angst. „Gott, Ehre, Vaterland!“ und „Weg mit den Schwuchteln!“ riefen ihr Männer mit kurz geschorenen Haaren zu. Sie warfen mit Flaschen, Eiern, Pflastersteinen und Böllern nach Yulia und den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Pride Parade im polnischen Białystok. Yulia und ihre Freunde kämpften sich Schritt für Schritt nach vorne, sangen gegen das Knallen der Böller an und schwenkten kleine Regenbogenfahnen. Irgendwann traf einer der Steine Yulia am Hintern und hinterließ einen großen blauen Fleck. „Nie im Leben werde ich die Frau vergessen, die mir in die Augen schaute und rief: Stirb!“, sagt sie.
Hooligans, Nationalisten und Anhänger radikaler Priester reisten an
Die Parade in Białystok im Nordosten Polens hatte zum ersten Mal stattgefunden. Yulia war eine der 800 Polinnen und Polen, die dort für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Queeren (LGBTQ) auf die Straße gingen. Was dort am Ende geschah, hatte mit guter Laune und Toleranz allerdings wenig zu tun. Hooligans, Nationalisten und Anhänger radikaler Priester reisten an, um den Marsch gewaltsam aufzuhalten. Die Videos und Bilder von diesem Tag schockieren: Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Pride Parade werden geschlagen, weinen vor Angst. Und trotzdem gibt es einen Gewinner: Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) schlägt aus den Vorfällen in Białystok politischen Profit. Sie erzählt schon lange, dass die traditionelle Familie bedroht wird. PiS-Chef Jarosław Kaczyński sagte im März: „Der ganze Mechanismus, der unsere Kinder darauf vorbereitet, Mütter und Väter zu werden, soll zerstört werden.“ Jetzt positionieren sich die Parteien für die Parlamentswahl im Oktober. Sie gilt als wichtigste seit dreißig Jahren. Die Mehrheit, mit der PiS gewinnen wird, entscheidet, ob Polen sich der EU zu- oder abwendet.
Yulia Krivich hat die Gewalt gegen Teilnehmer der Gay Pride Parade in Bialystok miterlebt.
Dabei lenkt der Streit um die Toleranz für sexuelle Orientierung von den wahren politischen Problemen der Regierung ab. Anstatt darüber zu sprechen, dass der EuGH zuletzt heftig gegen die Justizreformen der polnischen Regierung ausgeteilt hat, oder dass die polnischen Schulen nicht genug Plätze für alle Kinder bieten, diskutiert das Land über die Ausschreitungen in Białystok. Die PiS will dabei den Friedensstifter spielen. So sagte Jarosław Kaczyński zu Białystok: „Wir wollen keinen Krieg, wir wollen, dass wir miteinander auskommen.“ Dabei hätte die Regierung genau dazu beitragen können, wenn sie zum Beispiel mehr Polizisten bei der Parade eingesetzt hätte.
Immer wieder stockte der Marsch
„Ich lebe seit acht Jahren in Polen und war hier auf vielen Pride Parades“, sagt Yulia, die ursprünglich aus der Ukraine kommt. „Aber was in Białystok passiert ist, kann ich mir nicht erklären.“ Gemeinsamen mit Freunden war sie aus Warschau angereist. Dort hat 2005 die erste Pride Parade stattgefunden. Lech Kaczynski, der verstorbene Zwillingsbruder Jarosław Kaczyńskis und damals Warschaus Bürgermeister, wollte den Marsch verhindern und scheiterte. In diesem Jahr finden in 23 polnischen Städten Pride Parades statt, so viele wie nie zuvor. Bis auf die am Samstag im Białystok sind sie alle friedlich abgelaufen. Dort mussten die Polizisten am Ende die Barrikaden der Gegendemonstranten mit Pfefferspray auflösen. Immer wieder stockte der Marsch, einmal mussten die Teilnehmer umkehren und einen neuen Weg suchen. Yulias Freunde luden Bilder mit dem Hashtag #przeszliśmy auf Instagram hoch. Übersetzt bedeutet das in etwa: „Wir haben es bis zum Ende geschafft.“
Die Verantwortung für die gewaltsamen Übergriffe auf die Parade tragen dabei nicht allein die Bürger Białystoks oder gar „die polnische Gesellschaft“. Entlang der Strecke des Marschs waren am Samstag 61 Kundgebungen registriert. Die meisten organisierten die Kirche und nationalistische Gruppen. Der PiS-Politiker Artur Kosicki veranstaltete beispielsweise neben einem sogenannten „Familien-Picknick“ auch einen Marsch für Familien mit Kindern. Er präsentierte sie als „Alternative“ zur Pride Parade.
„Man hat von Anfang an erwartet, dass es in Białystok eskaliert“
„Plötzlich waren die Teilnehmer des Picknicks und Familienmarsches auch unsere Gegendemonstranten“, sagt Aleksandra Kluczyk. „Meine Freunde wollten mit ihren Kindern am Picknick teilnehmen, aber wurden wegen ihrer Regenbogenfahnen verjagt.“ Die 22-Jährige ist eine der Organisatoren der Pride Parade in Białystok. „Ich sehe die Verantwortung vor allem bei den Priestern, die gegen uns hetzten und beteten und jetzt die Unschuldigen spielen, statt einen Dialog zu suchen“, sagt sie.
Tatsächlich spielt auch die Kirche bei den aktuellen Wahlkämpfen eine wichtige Rolle: 87 Prozent der Polen gehören der römisch-katholischen Kirche an, die Regierungspartei PiS hat dementsprechend großes Interesse an deren Unterstützung. Erst im Mai machte eine Aktivistin Schlagzeilen. Sie wurde festgenommen, weil sie Poster verteilte, auf denen Maria einen regenbogenfarbenen Heiligenschein trägt. Auch Alexandra hat in den vergangenen zwei Monaten immer wieder Anrufe von Journalisten erhalten, die fragten, ob man ebenfalls eine Maria mit Regenbogen-Heiligenschein zeigen werde: Aleksandra ärgert sich darüber: „Man hat von Anfang an erwartet, dass es in Białystok eskaliert.“
Aleksandra Kluczyk hat die Pride Parade in Białystok mit organisiert.
Nach Białystok ist das Thema LGBTQ in Polen wieder in den Medien. Am Tag nach dem Protest erschien auf der rechtsnationalen Seite wPolityce.pl ein Kommentar. „Die Pride Parade, deren Teilnehmer die LGBT-Ideologie immer aggressiver propagieren und die katholischen Werte angreifen, bekämpft offen die Geschlechterideologie“, hieß es darin. Für Aufmerksamkeit sorgte die PiS-nahe Zeitung Gazeta Polska schon vor der Pride Parade. Sie kündigte an, ihren Ausgaben einen Sticker mit der Aufschrift „LGBT-freie Zone“ beizulegen.
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Pride-Parade-Organisatorin Aleksandra Kluczyk ist genervt von allen Politikern, die aus ihrer Misere politisches Potenzial schlagen wollen. Auch die Opposition versucht ihr Glück: Drei Oppositionspolitiker kündigten für diesen Samstag einen „Marsch gegen Hass“ in Białystok an. „Ich glaube nicht, dass Białystok jetzt drei Herren im Anzug braucht, die die Situation noch weiter eskalieren lassen, sondern ganz viel Aufarbeitung und Aufklärung“, sagt Aleksandra. „Auf jeden Fall wird es auch 2020 eine Pride Parade in Białystok geben!“