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Brauchen wir eine Frauenquote für Hasskommentatoren?

Illustration: Federico Delfrati

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Blind Date mit Hasskommentator: Vor ein paar Wochen startete die Tagesschau eine ungewöhnliche Aktion, um mit ihren schärfsten Kritikern in Kontakt zu kommen. Man konnte sich in einen Facebook-Livestream schalten und Chefredakteur Kai Gniffke von Angesicht zu Angesicht sagen, was man von ihm und der von ihm verantworteten Sendung hält. Ich habe mir das Ganze angeschaut – und mich gewundert. Denn unter den Anrufern war keine einzige Frau. Eine Stunde lang ging es nur um den wütenden männlichen Blick auf die Tagesschau.

Als ich mich danach durch meine Facebook-Timeline scrollte, fiel mir zum ersten Mal auf, wie viel häufiger und wie viel drastischer Männer politische Themen kommentieren. Nicht nur bei der Tagesschau, auch beim Spiegel, hier, bei der SZ, oder wenn Privatpersonen Online-Diskussionen eröffnen.

Ich fragte mich und meine Facebook-Freunde: Warum? Sind Frauen weniger wütend und wenn ja, wieso? Motzen Männer so laut herum, weil sie sich so stark von Medien und Politik vernachlässigt fühlen? Oder ist das Gegenteil der Fall und Frauen interessieren sich generell nicht so sehr für Nachrichten? Und wenn das so ist, wie müssten Nachrichten präsentiert werden, damit sie es tun?

Oder liegt die mangelnde Hater-Präsenz der Frauen einfach daran, dass sie netter sind? Oder unkritischer? Vielleicht weil brave Mädchen in den Himmel kommen? Weil sie sonst Zicken sind? Oder umgekehrt: Sind sie schlicht zu klug für Internetschlammschlachten?

Vielleicht haben Frauen auch nicht so viel Zeit für Nachrichten und Netzpöbeleien, weil sie 60 Prozent mehr unbezahlte Arbeit leisten als Männer? Sagen sie ihre Meinung nicht so gerne öffentlich, weil sie danach stärker als Männer mit Anfeindungen und Anmachen klarkommen müssen? Oder ist das Quatsch und Frauen pöbeln genauso gerne, nur halt lieber auf der Seite der Vox-Sendung Shopping Queen? Brauchen wir vielleicht eine Frauenquote für politische Hasskommentatoren?

Ich habe versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Generell zeigen diverse medienwissenschaftliche Studien (zum Beispiel diese und diese hier), dass Männer sich quasi schon immer aktiver an öffentlichen Diskussionen beteiligt haben als Frauen. Ob bei klassischen Leserbriefen oder in Online-Kommentaren, der Großteil der Feedbackgeber ist männlich. Das ist sogar bei Zeitungen mit grundsätzlich feministischer Haltung, wie der taz so. Nur 30 Prozent der gedruckten Briefe kommen von Frauen. Und das, obwohl die Zeitung bei der Auswahl der Leserbriefe sogar Frauen bevorzugt, um die Omnipräsenz der Männer zu reduzieren.

Sind Frauen weniger wütend als Männer?

Der Psychologe Theodor Itten hat 575 Männer und Frauen in der Deutschschweiz zum Thema Jähzorn befragt. Jeder vierte Erwachsene hat seinen Ergebnissen zufolge ein Jähzorn-Problem, neigt also zu cholerischen Ausfällen. Dabei gibt es, wenn man das bloße Auftreten von Jähzorn betrachtet, keine großen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, so Itten. Männer schreien aber häufiger und werden auch häufiger gewalttätig, Frauen neigen dagegen eher dazu, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Sie werfen also zum Beispiel eher mit Tassen UND brüllen, als nur zu brüllen. Außerdem zeigen Männer ihre Wut eher daheim und Frauen eher im Job. Das deutet darauf hin, dass beide Geschlechter im Schnitt ähnlich wütend sind, diese Wut aber unterschiedlich äußern.

 

Haben Frauen Angst sich im Netz zu wütend äußern, weil sie nicht für Zicken gehalten werden wollen?

Die Arizona State University hat herausgefunden, wie Menschen eine wütende Frau beurteilen - nämlich ganz anders als einen wütenden Mann. Sie stellten dazu in einem Experiment mit 210 Studenten Gerichtsverhandlungen nach. Beide Geschlechter benutzten exakt dieselben Argumente. Wenn die Frau diese Argumente wütend vortrug, wurde sie als emotional eingestuft: Die Zuhörer glaubten ihr nicht, übrigens unabhängig davon, welches Geschlecht sie selbst hatten. Beim Mann war es genau umgekehrt: Wütende Männer wurden als glaubwürdiger wahrgenommen als nicht wütende Männer. Ein Indiz dafür, dass sich gezeigte Wut für Frauen nicht lohnt, denn sie bekommen dadurch keine Bestätigung von anderen.

Generell sind Frauen in der eigenen Außendarstellung zurückhaltender als Männer, wie Zeit-Redakteurin Anna-Lena Scholz kürzlich in einem Artikel darlegte. Darin schildert sie, wie schwierig es ist, Wissenschaftlerinnen davon zu überzeugen, öffentlich ihre Meinung zu äußern und wie bereitwillig das dagegen Männer tun. Historisch betrachtet ist das kein Wunder: Der Intellektuelle ist traditionell männlich, jahrhundertelang standen vor allem männliche Gelehrte in der Öffentlichkeit, Frauen hatten dort nichts zu suchen. Und in der Forschung ist es Studien zufolge bis heute so, dass dieselben Forschungsergebnisse schlechter bewertet werden, wenn sie von einer Frau stammen, als wenn darüber ein männlicher Name steht. Unconscious Bias, also unbewusste Vorurteile, nennen Wissenschaftler das. Einschränkend muss man allerdings erwähnen: Die meisten sehr unfreundlichen Kommentare im Netz sind nicht gerade intellektuelle Hochleistungen, von daher ist der Vergleich von wütenden Kommentaren mit bedeutender Forschung zumindest gewagt. Sie gibt aber trotzdem einen Hinweis daraf, warum Frauen sich generell öffentlich nicht so lautstark äußern.

Hinzu kommt, dass Leistungen und Äußerungen von Frauen nicht nur im Stillen von sowohl Männern als auch Frauen schlechter bewertet werden, sondern dass Frauen auch öffentlich deutlich härtere Kritik einstecken müssen. Der Guardian hat 2016 alle Leserkommentare ausgewertet, die seit 1999 auf seiner Seite eingegangen sind. Ergebnis: Unter den zehn Autoren, die die meisten Drohungen und Beleidigungen einstecken mussten, sind acht Frauen. Oder wie es meine Facebook-Freundin Leonie ausdrücken würde: „Schätze, es ist eine Mischung aus zu viel Höflichkeit, zu viel Gleichgültigkeit und keinen Bock auf 20 schmierige Anmachen im Messenger-Briefkasten.“

Pöbeln Frauen trotzdem genauso gerne, nur halt lieber über andere Themen?

Wenn man sich mal abseits von Politik und Wissenschaft mit der Diskussionskultur von Frauen im Internet beschäftigt, gewinnt man dennoch nicht den Eindruck, dass es sich bei Frauen um ein höflicheres, netteres oder diplomatischeres Geschlecht handelt:

„Wir wollen eine demokratisch Sendung und keine Heidi-Diktatur!“, „OMG Was für ein grottiger Look!“, „Meine Fresse ! Sorry aber das es nur noch Videos bei euch gibt nervt mega !!!“

Das sind aktuelle Facebook-Kommentare von weiblichen Verfasserinnen auf den Seiten von Shopping Queen und Germany's Next Top Model.  Und das sind keine Ausnahmen, sondern gängige Äußerungen der Zuschauerinnen. In Communitys und Foren zu persönlichen Themen, zu Kleidung und Schminke werden Frauen laut. Warum aber poltern sie dann auf den Nachrichtenseiten nicht mit?

Haben Frauen weniger Zeit für Nachrichtenkonsum und Netzradau?

Frauen haben weniger Freizeit als Männer. Sie arbeiten zwar durchschnittlich weniger Stunden, wenn es um den regulären Arbeitsmarkt geht, dafür leisten sie aber immer noch den Großteil der Hausarbeit und investieren im Gegensatz zu Männern mehr Zeit in die Pflege von Angehörigen und die Betreuung von Kindern.

So haben Frauen laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2012/2013 im Wochenschnitt 45,5 Stunden gearbeitet. Das ist eine Stunde mehr, als die Männer. Und wer mehr arbeitet, der hat vielleicht auch weniger Energie, sich danach noch mit Politik und Weltgeschehen zu befassen. Oder liegt es doch eher daran, dass Frauen Nachrichten einfach nicht gut finden?

Sind Männer unzufriedener mit den Nachrichten als Frauen? Oder ist das Gegenteil der Fall und Frauen gucken kaum Nachrichten?

Tatsächlich ist das Vertrauen von Frauen in das Fernsehen laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen größer als das von Männern. Frauen misstrauen dafür aber stärker der Bild-Zeitung und Social Media. Die Unterschiede sind allerdings nicht sonderlich groß.

Viel auffälliger ist, dass Frauen laut Selbstauskunft deutlich weniger Nachrichten konsumieren als Männer. In einer Umfrage der ARD/ZDF-Medienakademie unter Menschen mit hohem Bildungsgrad gaben 89 Prozent der Männer an, regelmäßig Nachrichten zu schauen, aber nur knapp die Hälfte der Frauen. Und das, obwohl Frauen inzwischen deutlich häufiger Abitur machen als Männer.

Gefragt nach den Gründen gaben die Frauen an, dass sie sich nach dem Gucken von Nachrichten nicht gut und bedrückt fühlten. Sie vermissen Hintergründe und konstruktive Lösungsansätze. Männer fühlten sich dagegen informiert und neutral. Die Tagesschau hat, genauso wie andere Nachrichtensendungen und -Seiten also das Problem, dass sie Nachrichten macht, die vielen Frauen von der Machart her nicht gefallen. Und wer sich für die Nachrichten deshalb nicht interessiert, der kommentiert vielleicht ja auch weniger.

 

Brauchen wir vielleicht eine Frauenquote für politische Hasskommentatoren?

Diese Frage ist natürlich nicht ganz ernst gemeint – wir haben in Deutschland sicherlich keinen Mangel an unfreundlichen Kommentaren und nicht jedes Problem lässt sich von oben nach unten lösen. Aber wir haben aus einem Konglomerat an Gründen einen Mangel an Frauen, die sich aktiv in politische Diskussionen einbringen. Das ist nicht neu, wird aber durch die sozialen Medien sichtbarer. Und es ist schade, weil es die öffentliche Meinung verzerrt, wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht an der Debatte teilnimmt.

 

An einigen dieser Gründe können Frauen arbeiten (Scheu, Höflichkeit), an anderen Medienmacher und -macherinnen (unattraktive Nachrichten), an wieder anderen Männer (unaufgefordertes Stalking und Sexting gegenüber kommentierenden Frauen) und an wieder anderen liegt es an der Gesellschaft als Ganzes (faire Bewertung der Leistungen von Männern und Frauen).

 

 

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