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Vorsicht allein kann sexualisierte Gewalt nicht bekämpfen

Lauert Gefahr? In der Dunkelheit sind Frauen noch mehr auf der Hut vor gewaltvollen Übergriffen.
Foto: Dovile Ramoskaite / Unsplash

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Trigger-Warnung: In diesem Text wird sexualiserte Gewalt beschrieben.

Ich war noch ein Grundschulkind, als mich zum ersten Mal in der Öffentlichkeit ein Mann belästigte. Meine Freund*innen und ich spielten gerade vor einem Imbiss. Drinnen saßen unsere Eltern, hatten die Bestellung aufgegeben – und wir waren einfach zu ungeduldig, um still am Tisch sitzen zu bleiben. Kinder halt. Nur kurz waren wir unbeaufsichtigt, schon hatte uns ein fremder Mann seinen Penis gezeigt. Wenig später lernte ich mein allererstes Fremdwort: „Ex-hi-bi-ti-o-nis-mus“. Wie schwer es war, das auszusprechen.

Meine Eltern wohnten gegenüber einer kleinen Grünfläche. Sie waren immer in Sorge um mich, wenn ich als Teenie bei Dunkelheit unterwegs war. Oft rief ich sie an, wenn ich von der Haltestelle heimlief. Auch an einem Abend, als mir ein Typ aus der U-Bahn gefolgt war. Meine Schritte wurden schneller, aber ich spürte, wie er sich näherte. „Mama, da ist jemand hinter mir“, flüsterte ich ins Handy. Auch als ich vom Weg auf die Wiese abbog, bei der meine Eltern wohnten, kam der Mann mir hinterher. Erst als mein Bruder mir mit großen Schritten und kaum geschnürten Schuhen entgegenrannte, verschwand der fremde Mann. Mein Bruder sagte später, der Typ sei ganz dicht hinter mir gewesen, ich selbst hatte es nicht gewagt, mich umzudrehen.

Keine dieser Schutzmaßnahmen kann mich wirklich vor Gewalt schützen

Von klein auf habe ich also gelernt, was sexualisierte Gewalt bedeutet, und: wie ich mich selbst vor Männern schützen kann. So wie viele andere Frauen und als weiblich wahrgenommene Menschen auch. Ich würde sogar sagen: alle. Nachts meiden wir schlecht beleuchtete Straßen, Parks sowieso. Wir haben Pfefferspray in unseren Handtaschen. Wir wissen sogar, wie wir unsere Hausschlüssel zur Waffe zweckentfremden können. Wir tragen bequeme Schuhe, um notfalls schneller weglaufen zu können – und grelle, wiedererkennbare Kleidung. Wir faken Anrufe und rufen dabei ganz laut: „Ja, ich bin bald zu Hause, du kannst mir schon mal entgegenkommen!“. Eigentlich weiß ich: Keine dieser Schutzmaßnahmen kann mich wirklich vor Gewalt schützen. Die Angst ist Alltag – wie die Wut darüber, überhaupt ängstlich sein zu müssen. Was hilft dagegen?

Sie lief auf gut beleuchteten Straßen. Aber Sarah kam nie zu Hause an

Als die Engländerin Sarah E., 33, am Mittwochabend vor einer Woche um 21 Uhr das Haus einer Freundin in London verließ, trug sie Turnschuhe und grelle Kleidung. Auf dem Heimweg telefonierte sie mit ihrem Freund. Sie lief auf gut beleuchteten Straßen. Aber Sarah kam nie zu Hause an. In einem nahegelegenen Wald fand die Polizei später Leichenteile, ein Polizist wurde wegen des Verdachts auf Mord festgenommen. In den sozialen Medien diskutieren seither Nutzer*innen heftig über sexualisierte Gewalt und die Sicherheit von Frauen. Leider sind darunter auch einige Menschen – vor allem Männer – die Victim Blaming betreiben.

Sie suggerieren, Sarah sei selbst schuld, weil sie zu spät abends unterwegs gewesen sei (zur Erinnerung: Es war 21 Uhr). Sie habe sich nicht ausreichend geschützt. Dieser Vorwurf ist auf so viele Arten daneben. Nicht nur, weil Sarah offensichtlich zahlreiche Selbstschutzmaßnahmen getroffen hatte. Sondern vor allem – und das sollte doch so offensichtlich sein – weil Frauen, die einfach nur nach Hause gehen, niemals Schuld daran sind, wenn sie dabei von Männern belästigt, vergewaltigt, ermordet werden. Sie sind die Opfer, nicht Täterinnen. 

Es hilft wenig, sich als Mann bei Debatten über Sexismus und sexualisierte Gewalt reflexartig freizusprechen

In den sozialen Netzwerken leisten zahlreiche Menschen Widerstand gegen die Victim-Blaming-Rhetorik. Sie schreiben, was selbstverständlich sein sollte: „Wir wollen ohne Angst nach Hause laufen“. Und: „Schützt nicht die Töchter, klärt die Söhne auf.“ Genau da ist der Knackpunkt. Natürlich sind unsere Selbstschutzmaßnahmen wichtig. Sie geben uns das Gefühl, im Notfall handeln zu können. Doch im Zweifelsfall können auch sie uns nicht schützen, solange Männer Gewalt ausüben und eine Gefahr darstellen.

Durch die Selbstschutzmaßnahmen verinnerlichen wir ein Stück weit leider auch patriarchale Gewalt. Es läuft etwas falsch, wenn es für Frauen und weiblich gelesene Menschen normal wird, sich täglich vorzustellen, was ihnen alles widerfahren könnte. Denn selbst, wenn wir abends nichts mehr rausgehen und zu Hause bleiben, sind wir nicht geschützt. Studien zeigen: Jede dritte Frau in Deutschland wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von häuslicher Gewalt. 

Aber es seien doch nicht alle Männer so, mag man jetzt entgegnen. Stimmt. Nicht alle Männer würden Frauen Gewalt antun – ob auf offener Straße oder im eigenen Zuhause. Aber es sind zu viele, um zu wissen, wer es nicht tun könnte. Und es hilft wenig, sich als Mann bei Debatten über Sexismus und sexualisierte Gewalt reflexartig freizusprechen und die Aufmerksamkeit auf die eigene Unschuld zu lenken. Hilfreicher wäre es, das zu tun, was gerade einige junge Männer im Internet machen: Sie fragen, was sie tun können, um etwas zu verändern. 

Redet mit anderen Männern darüber, macht sie darauf aufmerksam, wenn sie sich daneben verhalten

Liebe Männer, hört uns zu, nehmt unsere Angst (und auch die damit einhergehende Wut) ernst. Stellt uns Fragen, wenn ihr unsicher seid. Reflektiert euer eigenes Verhalten und informiert euch zu den Themen Gewalt gegen Frauen und Sexismus. Redet mit anderen Männern darüber, macht sie darauf aufmerksam, wenn sie sich daneben verhalten. Wenn ihr nachts einer Frau auf der Straße begegnet, könnt ihr die die Straßenseite wechseln. Ihr könnt Frauen ausweichen, wenn sie euch entgegenkommen. Schleicht nicht, sondern macht Geräusche, sodass wir hören können, wo ihr euch befindet – ruft vielleicht jemanden an oder tut so. Meinetwegen könnt ihr auch ein Lied trällern oder kurz sagen, dass ihr auch nur nach Hause wollt, nichts weiter. Bietet Freundinnen an, sie auf dem Heimweg zu begleiten. 

Vor zwei Jahren war ich alleine in England unterwegs. Während meiner Reise bin ich abends kein einziges Mal rausgegangen. Aus Angst, dass mir etwas passieren könnte. Im Nachhinein habe ich mich oft darüber geärgert, weil ich gerne in eine Bar oder ins Theater gegangen wäre und stattdessen in engen Hostels festsaß. Als ich von Sarahs Fall hörte, dachte ich für einen kurzen Moment: Gut, dass du in London abends nicht alleine draußen warst. Als hätte ihr Verschwinden etwas mit dem Ort zu tun. Ich wünsche mir, dass wir Frauen und als weiblich wahrgenommene Menschen nicht mehr so denken müssen. Dass wir nicht mehr dauernd in Gedanken Gewaltszenarien gegen uns selbst durchspielen müssen, um Schutzmaßnahmen auszuklügeln. Lasst uns gemeinsam daran arbeiten, dass sich etwas ändert.  

Hinweis der Redaktion:

Betroffene können gegen sexuelle Belästigung vorgehen, zum Beispiel durch eine Anzeige bei der zuständigen Polizeidienststelle. Für Betroffene sexualisierter Gewalt gibt es zudem Beratungsstellen. Immer erreichbar ist zum Beispiel das bundesweite Hilfetelefon. Das Hilfetelefon ist rund um die Uhr unter der Nummer 08000 116 016 kostenlos, auf Wunsch anonym und über die Internetseite auch mit Gebärdendolmetschung erreichbar.

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