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Pubertätsblocker bei trans Jugendlichen: Wie sie sich auswirken
„Seit ich denken kann, habe ich gesagt: ‚Ich bin ein Mädchen‘“, erinnert sich die vierzehnjährige Lina. Obwohl ihr bei ihrer Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, machte sie schon als Kind vieles, das die Gesellschaft als „typisch weiblich“ markiert, erzählt sie: Sie trug rosa Kleidung und Zöpfe, liebte Einhörner und Glitzer und probierte mit ihren Freundinnen Frisuren aus. Für sie sei klar gewesen, dass sie als Frau und nicht als Mann leben möchte, sagt Lina. Deshalb besucht sie seit einem knappen Jahr regelmäßig die Universitätskinderklinik in Bochum.
Annette Richter-Unruh betreut und berät dort momentan rund 600 Kinder und Jugendliche aus ganz Deutschland, die trans* sind, sich also nicht mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren können. Die Zahl dieser Menschen steige seit einigen Jahren stark an, sagt die Professorin. Woran das liegt, können Wissenschaftler*innen nicht genau sagen: Viele gehen davon aus, dass eine bessere Aufklärung zu mehr gesellschaftlicher Akzeptanz führt. Richter-Unruh unterbricht die Pubertät der trans* Jugendlichen mit Medikamenten, sogenannten Pubertätsblockern. Auch Lina wird seit Herbst des vergangenen Jahres damit behandelt.
Als sie im Büro der Ärztin sitzt, trägt Lina ihre dunkelblonden Haare schulterlang und hat bunt lackierte Fingernägel. Sie wirkt, als fühle sie sich wohl in ihrem Körper. Doch das war nicht immer so. Früher sei sie sehr unsicher gewesen, erzählt Lina. Als sie in die zweite Klasse kam, begannen ihre Mitschüler*innen, sie zu mobben. „Ich wusste nicht genau, was mit mir los war“, sagt sie. Das änderte sich erst, als ihre Mutter sie 2018 mit zum Christopher Street Day in Köln mitnahm. „Dort habe ich mit Menschen geredet, die mir erklärt haben, dass ich mit diesem Gefühl nicht leben muss, sondern etwas an meinem Körper verändern kann“, sagt Lina. „In diesem Moment war es, als würde eine Last von mir abfallen.“
Die Behandlung mit Pubertätsblockern ist ein Eingriff mit weitreichenden Folgen
Anderthalb Jahre nach diesem Moment, im Oktober 2019, ist Lina 13 Jahre alt. Ihre Stimme klingt plötzlich heiser. „Beginnt jetzt der Stimmbruch?“, fragen sie und ihre Mutter sich. Ihr Psychologe überweist Lina in die Universitätskinderklinik. Eigentlich hat Annette Richter-Unruh viel zu tun, Lina kann aber in die Notfallsprechstunde kommen. Bei der Untersuchung stellt die Ärztin fest, dass Linas Pubertät schon begonnen hat. Erst ab diesem Zeitpunkt ist es möglich, Pubertätsblocker zu verabreichen.
Diese verhindern, dass das Gehirn Botenstoffe produziert: Wenn das Gehirn in Linas Fall über die Hirnanhangsdrüse diese Botenstoffe zu den Hoden schickt, wird dort das männliche Hormon Testosteron produziert. Die Pubertätsblocker blockieren die Hirnanhangsdrüse, sodass kein Testosteron produziert und die Pubertät aufgehalten wird. Doch um zu wachsen, brauchen Jugendliche Sexualhormone. Deshalb wird Lina seit Juni 2020 mit dem weiblichen Hormon Östrogen behandelt. Die Dosis wird langsam gesteigert, um in ihrem Fall die weibliche Pubertät nachzuempfinden, und auf die jeweilige Person abgestimmt.
Früher wurden geschlechtsangleichende Behandlungen häufig erst durchgeführt, wenn die Person volljährig war. Doch in die Sprechstunde von Annette Richter-Unruh kommen immer mehr Kinder und Jugendliche mit einem enormen Leidensdruck, sagt die Ärztin. Das liege ihrer Ansicht auch an einer höheren Sichtbarkeit von trans* Menschen in den Medien und daran, dass Trans*-Sein gesellschaftlich immer akzeptierter werde – vor allem bei jungen Menschen. Die Behandlung mit Pubertätsblockern ist ein Eingriff mit weitreichenden Folgen. Darüber seien sich die Jugendlichen aber bewusst, sagt die Ärztin. Außerdem müssten sie zuvor zwei psychologische Gutachten vorweisen. Von einen Tag auf den nächsten könne also niemand entscheiden, die Blocker einnehmen zu wollen.
Würde Lina ihre Hormonbehandlung abbrechen und die Blocker absetzen, würde sie die männliche Pubertät durchlaufen. Erst mit ungefähr 18 Jahren kann sie sich entscheiden, ob sie eine geschlechtsangleichende Operation durchführen lassen möchte. Der Wunsch nach einer Operation sei in der Regel groß und viele trans* Mädchen könnten die Operation kaum erwarten, erklärt Richter-Unruh. Auch die Blocker seien extrem hilfreich: „Würden wir die männliche Pubertät bei Lina nicht unterbrechen und sie erst als Erwachsene mit Hormonen behandeln, würden Menschen sie vielleicht lebenslang aufgrund ihrer tiefen Stimme, dem Adamsapfel oder dem männlichen Körperbau kritisch beäugen.“
Trans* Jugendliche nicht zu behandeln, ist für Richter-Unruh „keine Option“, sagt sie
Für Lina war die Behandlung mit Pubertätsblockern die richtige Entscheidung, sagt die 14-Jährige. Sie fühle sich immer wohler in ihrem Körper. Manche Ärzt*innen sehen diese Art der Behandlung aber skeptisch. Einer von ihnen ist Dr. Alexander Korte, der als Kinder- und Jugendpsychiater am Klinikum der Universität München arbeitet. Er meint, dass einige Jugendliche die Möglichkeit, trans* zu sein, als „Pseudo-Lösung“ für ihre Probleme sehen würden: „Trans* zu sein, wird in der Gesellschaft immer akzeptierter“, sagt er im Interview am Telefon. „Manche denken deshalb, dass es ihre individuellen Probleme lösen kann, wenn sie sich als trans* identifizieren. Das ist aber meistens nicht der Fall.“
Mari Günther, systemische Therapeutin und Fachreferentin beim Bundesverband Trans*, sieht das anders: „Die Jugendlichen überlegen sich das sehr genau. Einen solchen Eingriff nimmt niemand auf die leichte Schulter. In Gesprächen mit Jugendlichen wird schnell deutlich, wie gut sie ihre Situation reflektieren können. Für Herrn Kortes Deutung gibt es keinen relevanten klinischen Befund.“ Korte weist weiterhin darauf hin, dass die körperlichen Risiken und Langzeitfolgen der Behandlung nicht ausreichend erforscht seien: Es gebe Hinweise auf negative Effekte der Pubertätsblocker auf die Knochendichte und möglicherweise auf die kognitive Leistung. Wenn Personen pubertätsblockierend und anschließend mit Hormonen behandelt werden, würden sie außerdem unfruchtbar werden.
Doch trans* Jugendliche nicht zu behandeln, ist für Annette Richter-Unruh „keine Option“, sagt sie deutlich. Zu groß sei die Gefahr, dass sie depressiv werden und schwere Folgeschäden davontragen könnten. Das sieht auch Mari Günther vom Bundesverband Trans* so: „Wenn trans* Jugendliche behandelt werden, verändert sich ihr Körper. Wenn sie nicht behandelt werden, aber auch. In jedem Falle müssen sie mit den Veränderungen leben, daher sollte ihr Wunsch das maßgebliche Kriterium sein.“
Selten wird gleich erkannt, dass Kinder trans* sind, vor allem wenn sie noch sehr jung sind. David (Name geändert) wurde bei seiner Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen. Er fühle sich aber als Junge, erzählten die Eltern des Sechsjährigen. Sie besuchen zweimal im Jahr gemeinsam die Beratung von Annette Richter-Unruh. Zuvor suchten sie Hilfe bei der Erziehungsberatung. „Dort wurde uns gesagt, dass wir David starke Frauenvorbilder schaffen und ihm klar machen sollen, dass er weiblich ist.“ Sie befolgten den Rat und kauften Bücher wie „Pippi Langstrumpf“. „Das Resultat war, dass er nach einem Jahr sagte: ‚Ich bin ein Mädchen, aber ich möchte ein Junge sein‘“, erzählt seine Mutter. Richter-Unruh erklärt: „Eine Geschlechtsdysphorie, also wenn eine Person sich länger als sechs Monate nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren kann, ist keine Sache der Erziehung, sondern kommt aus dem Kind.“
In den folgenden Monaten versuchten seine Eltern, eine Zwischenlösung zu finden und kauften ihm zum Beispiel Kleidung für Jungen, berichten sie bei einem Treffen in der Klinik. Doch David ging es immer schlechter. Er entwickelte den Tick, sich ständig zu räuspern, kratzte sich das Gesicht blutig und spielte im Kindergarten nicht mehr mit anderen. Seine Eltern entschieden sich schließlich dafür, seinem Wunsch nachzugeben und ihn als Junge leben zu lassen: 2018 ließ sich David die Haare kurz schneiden. Außerdem wurde er in seiner Familie und später im Kindergarten mit seinem Jungennamen angesprochen. Nach diesen Veränderungen ging es ihm schnell besser – ein Zeichen für seine Eltern, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Auch Davids Freund*innen und Verwandte akzeptierten ihn problemlos.
Lina geht es nach ihrem Coming-out viel besser
„Natürlich habe ich mir einen einfacheren Lebensweg für mein Kind gewünscht“, sagt Davids Vater, „aber irgendwann war es alternativlos. Die Nachteile wären zu groß gewesen, wenn wir weitergemacht hätten wie bisher.“ Das bestätigt Annette Richter-Unruh: „Wenn Sie ihr Kind glücklich sehen wollen, muss man diesem Wunsch nachgehen. Er würde sonst in der Mädchenrolle untergehen“, erklärt sie.
Doch ganz ohne Zweifel ist Davids Vater nicht: „Ich hoffe, ich werde unsere Wahl niemals bereuen“, sagt er. „Zwar bin ich mir im Großen und Ganzen sicher, dass es die richtige war, aber ich habe Angst davor, dass mein Sohn irgendwann zu mir kommt und sagt: ‚Was hast du damals für eine Entscheidung getroffen?‘“
Lina ist glücklich mit ihrer Behandlung. „Ich kann jetzt offener leben, sogar das Mobbing hat aufgehört“, erzählt sie. „Das kommt häufig vor“, sagt Richter-Unruh, „die Kinder verstehen dann, was mit einem trans* Kind ‚nicht stimmte‘ und warum es so schüchtern war.“ Im Oktober 2019 hatte Lina schließlich ihr Coming-out in der Schule: „Ich habe zuerst mit den Lehrern gesprochen und es dann meiner Klasse erklärt“, sagt sie. Ihre Mutter ergänzt: „Im Lehrerzimmer hing ein Steckbrief von ihr mit ihrem neuen Namen. An diesem Tag haben sie alle Lehrer auf dem Flur angelächelt.“ Als sie das sagt, hat sie Tränen in den Augen – aus Stolz, dass ihre Tochter sich nicht unterkriegen lässt.
Begriffsklärungen:
Trans*
Trans* ist ein Oberbegriff, der verschiedene Menschen bezeichnet, die sich nicht beziehungsweise nicht nur mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Das Sternchen soll Raum für verschiedene Identitäten lassen.
Geschlechtsdysphorie
Unter Geschlechtsdysphorie wird ein Unbehangen mit dem eigenen Geschlecht verstanden, das länger als sechs Monate andauer