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Die EU ist jetzt „LGBTQI-Freiheitszone“

Zur Feier der Resolution wehten gestern in  Brüssel, wo sie verabschiedet wurde, Regenbogenflaggen und EU-Gebäude erstrahlten in Regenbogenfarben.
Fotot: AP Photo/Francisco Seco

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Die gesamte EU ist jetzt eine „LGBTQI-Freiheitszone“: Mit einer Mehrheit von 492 Ja- zu 141 Nein-Stimmen und 46 Enthaltungen hat das Europäische Parlament am Donnerstag, den 11. März, eine entsprechende Resolution angenommen. Diese ist rechtlich zwar nicht bindend, setzt aber ein Zeichen gegen Homo- und Transphobie und die Diskriminierung queerer Menschen und soll europäische Länder, in denen ihre Rechte missachtet werden, politisch unter Druck setzen. Die Abgeordneten hoffen zudem, einen Prozess für mehr EU-weite LGBTQI-Rechte anzustoßen. 

„Die Freiheitszone auszurufen, ist ein wichtiges Signal, aber es ist erst der Anfang“, sagte die polnische Europa-Abgeordnete Sylwia Spurek, Mitglied der grünen Fraktion, in der Parlamentsdebatte vor der Abstimmung. „Die Ehe für alle, das Recht, Kinder groß zu ziehen, Schutz vor Hate Speech und Hasskriminalität und das Recht, über die eigene Geschlechtsidentität zu entscheiden, müssen in der Europäischen Union Gesetz werden.“

In Spureks Heimatland Polen haben sich seit 2019 etwa 100 Gemeinden zu „LGBT-freien Zonen“, also als „befreit von LGBT-Ideologie“ erklärt. Die Lage für queere Menschen in Polen verschlechtert sich seit Jahren, Diskriminierung und Übergriffe, etwa bei Pride-Veranstaltungen, nehmen zu, und Organisationen, die sich für ihre Rechte einsetzen, werden zunehmend die finanziellen Mittel entzogen. Auch Behörden, Politiker*innen – darunter der amtierende Präsident Andrzej Duda – und regierungsnahe Medien verbreiten Hass und Hetze. Die EU-Kommission hat Anträge auf Fördergelder aus den „LGBT-freien“ polnischen Gemeinden abgelehnt, das Parlament fordert aber weitere Schritte, etwa ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen. In der Resolution wird auch die Situation in Ungarn kritisiert: Ende 2020 hatte das dortige Parlament eine Verfassungsänderung beschlossen, die die Rechte von LGBTQI-Personen weiter einschränkt.

„Die Behörden auf allen Regierungsebenen in der EU sollten die Gleichheit und die Grundrechte aller, einschließlich LGBTIQ-Personen, schützen und fördern“, heißt es darum nun in dem Beschluss des EU-Parlaments. Rechtskonservative und -nationale Abgeordnete im Europaparlament kritisierten ihn als „linke Ideologie und Propaganda“.

Nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses feierten viele EU-Parlamentarier*innen, zum Beispiel Terry Reintke von den Grünen, Moritz Körner von der FDP oder sein Fraktionskollege, der Franzose Pierre Karleskind, der die Resolution initiiert hatte.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schrieb an die LGBTQI-Community: „Die EU ist euer Zuhause.“

Auch aus der queeren Community selbst kamen positive Reaktionen – dennoch sind nicht alle davon überzeugt, dass die Resolution wirklich etwas verändern wird. Zum Teil stellten sie konkrete Forderungen, etwa einen verbesserten Schutz für Geflüchtete aus Drittländern, die in ihrer Heimat wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt oder sogar mit dem Tod bedroht werden. 

Die rechtliche Situation für LGBTQI ist nicht nur in Polen und Ungarn, sondern auch in vielen anderen EU-Ländern schwierig. So ist es zum Beispiel nur in Malta, Portugal und einigen spanischen Regionen verboten, medizinisch nicht notwendige Operationen an intergeschlechtlichen Kindern vorzunehmen. In Tschechien, Finnland, Lettland, Rumänien und der Slowakei müssen sich trans Personen sterilisieren lassen, bevor sie ihr Geschlecht offiziell anerkennen lassen können. Und auch die gleichgeschlechtliche Ehe oder die gemeinsame Adoption von Kindern ist nicht in allen EU-Ländern erlaubt.

Zudem sind Diskriminierungen, Hate Speech und Hassverbrechen gegen LGBTQI weiterhin verbreitet. Eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2020 hat ergeben, dass in Deutschland ein Drittel der Homosexuellen im Arbeitsleben diskriminiert wird, trans Personen sind sogar zu 40 Prozent betroffen. 2019 gab es laut Bundesregierung 564 politisch motivierte Straftaten gegen LGBTQI, 147 davon Gewalttaten, ein Anstieg um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. 

„Wir haben noch viel zu tun in unseren Parlamenten, auf unseren Straßen, in unseren Köpfen“

In einer Diskussion, die sich an die Abstimmung im Europaparlament anschloss und an der verschiedene europäische Künstler*innen, Aktivist*innen und EU-Abgeordnete teilnahmen, kam ein besonders drastischer, aktueller Fall zur Sprache. Petra de Sutter, seit Oktober 2020 belgische Vizepremierministerin und die erste transgender Ministerin der EU, berichtete von einem Mord am vergangenen Wochenende in Beveren, nahe Antwerpen: Drei Jugendliche hatten dort über eine Dating-App einen 42-jährigen, homosexuellen Mann in einen Park gelockt, zusammengeschlagen und erstochen. Der Fall zeige, sagte de Sutter, dass es trotz aller Fortschritte noch ein langer Weg zur wahren Gleichberechtigung sei. „Wir haben noch viel zu tun, in unseren Parlamenten, auf unseren Straßen, in unseren Köpfen.“

Die Resolution sei ein wichtiges Signal, sagt Klaus Jetz vom deutschen Lesben- und Schwulenverband (LSVD). „Es braucht aber weitaus mehr als symbolisches Handeln. Die ständigen Angriffe auf die Menschenrechte und die europäischen Werte seitens der polnischen und ungarischen Regierungen verlangen nach konkreten Konsequenzen.“ Er fordert, dass die schon laufenden Vertragsverletzungsverfahren auch wirklich Folgen haben und dass Lücken im Diskriminierungsschutz in EU-Mitgliedstaaten umgehend geschlossen werden. „Und die EU muss einen umfassenden Aktionsplan für den Schutz von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans* und intergeschlechtlichen Menschen umsetzen“, so Jetz.

Auch der europäische LGBTQI-Dachverband ILGA, der jährlich einen Report zur rechtlichen Situation homo-, bi-, trans- und intergeschlechtlicher Menschen in Europa und dem Nahen Osten herausbringt, begrüßt die Resolution, fordert aber konkretere Maßnahmen von der EU. „Es ist großartig, dass das Europäische Parlament möchte, dass die EU eine LGBTQI-Freiheitszone ist“, sagt ILGA-Vorsitzende Katrin Hugendubel. „Aber unsere tägliche Arbeit erinnert uns daran, dass es immer noch sehr viel zu tun gibt, um das EU-weit Realität werden zu lassen.“

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