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LGBTQ: Heteros sollten sich wie queere Menschen mehr mit ihrer Sexualität auseinandersetzen
Wenn Robin vor Schulklassen steht, seien da immer zwei bis drei Leute genervt. Schüler*innen, die Schwule schlimm finden oder trans Menschen für nicht existent erklären. „Aber wir leben davon, dass wir die anderen 30 etwas sensibilisieren und ihnen vielleicht mitgeben können: Auch wenn ihr nicht queer seid, könnt ihr euch hinterfragen und schauen, ob euch die ganzen Hetero-Stereotype eigentlich gefallen,“ sagt Robin.
Wenn nicht gerade eine Pandemie herrscht, steht Robin, 25 Jahre, häufiger vor Schulklassen. Im Rahmen des Bildungsprojekts Schlau – Bildung und Antidiskriminierung zu sexueller Orientierung und geschlechtlicher Vielfalt – ist Robin Teil eines Teams, das an Schulen über Identitäten spricht, aber auch über Themen wie Zustimmung. „Ich gehe nicht davon aus, dass die Klassen danach anfangen, Geschlecht als Konstrukt zu hinterfragen, das will ich auch gar nicht. Aber es hilft doch schon, mal diese Begriffe gehört zu haben, zu erfahren, dass es mehr gibt als Heterosexualität und dass nicht das eine normal ist und das andere nicht.“
„Sex mit Penetration ist okay und schön, aber da gibt es doch noch so viel mehr“
Viele queere Menschen setzen sich seit Beginn ihrer Jugend mit ihrer Sexualität auseinander. Sie müssen es geradezu, leben sie doch noch immer in einer Gesellschaft, in der ihnen vermittelt wird, dass sie anders sind, nicht die Norm. In dieser Auseinandersetzung entstehen Ideen davon, was man eigentlich mag – und was nicht. Der Sex wird zu etwas, das man selbst bestimmt. Diesen Prozess machen viele heterosexuelle Menschen nicht durch, doch könnten sie dabei einiges lernen.
Robin ist trans sowie nicht-binär (Anm. d. Red.: Trans Menschen identifizieren sich nicht mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Non-binäre Menschen identifizieren sich nicht als Mann und nicht als Frau.) Daher möchte Robin nicht mit einem Pronomen angesprochen werden. Die queere Auseinandersetzung mit Sex und Sexualität kennt Robin sehr gut: „Die Jugend war für mich eine sehr intensive Zeit. Ich habe gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt, aber ich hatte keine Worte dafür. Ich merkte, dass mein Körper eigentlich gar nicht meiner sein sollte.“ Dadurch sei ein anderer Zugang zum Körper entstanden, zu den Vorstellungen davon, was gefällt und was nicht. „Ich habe schnell gelernt, dass ich die Dinge, die ich beim Sex nicht mag, auch einfach nicht tun werde. Ich bin mit einem Cis-Hetero-Mann zusammen, er hat einen Penis, ich eine Vulva.“ Wenn Robin heterosexuellen Freunden und Freundinnen von der Partnerschaft erzähle, seien die Vorstellungen oft gleich: „Die können ja ,normalen‘ Sex haben, schließlich ist Penetration möglich.“ Da sei Robin klar geworden, wie wenig Menschen wirklich über den Sex nachdenken, den sie gerne haben möchten. „Klar, Sex mit Penetration ist okay und schön, aber da gibt es doch noch so viel mehr.“
Patrick Hess erlebt es häufiger, dass heterosexuelle Menschen schambehaftet über Sex sprechen, länger brauchen, bis sie zu den Themen kommen, die sie wirklich bewegen. Der 37-Jährige ist Paar- und Sexualtherapeut mit eigener Praxis in Berlin. Etwa 90 Prozent seiner Patient*innen identifizieren sich als queer, sagt Patrick Hess. Er selbst bezeichnet sich als schwul.
Alle Menschen sollten sich fragen: Wieso will ich eigentlich Sex haben?
Seiner Erfahrung nach seien es Hetero-Menschen, die oft nur ein Konzept von Sex im Kopf hätten: Das, was sie als „normal“ kennengelernt haben. „Sie müssen sich ja auch nicht mit anderem auseinandersetzen. Anders als viele queere Menschen.“ Er sagt, dass Heteros es sehr viel länger in unglücklichen Beziehungen mit nicht zufriedenstellendem Sexualleben aushalten, bevor sie sich Hilfe suchen. „Die Sexualität kann auch etwas Gefährliches haben. Vielleicht entdeckst du plötzlich Vorlieben oder Fetische, die dir unangenehm sind. Etwas vermeintlich Unnormales an sich zu entdecken, das kann ein schwerer Prozess sein“, sagt Patrick Hess. Zu ihm in die Praxis würden auch deshalb viele queere Menschen kommen, weil sie hier die Begriffe nutzen können, die sie sich selbst angeeignet haben. Sie könnten bei ihm offen über Kinks und Fetische reden, ohne sich zu rechtfertigen. „Bei Therapeut*innen mit eher heterosexuellem Fokus müssen diese Menschen oft in staunende Gesichter blicken und erstmal genau erklären, was sie meinen. Eben auch, weil viele straighte Menschen nie über diese Konzepte nachdenken.“
„Warum will ich eigentlich Sex haben?“ kann etwa eine Frage sein, die sich straighte Menschen öfter stellen könnten, sagt Patrick Hess. Zur Reproduktion? Weil die Gesellschaft es so vorschreibt? Weil Pornos es so zeigen? „Wenn auch straighte Menschen sich mal Gedanken darüber machen, wieso sie Sex haben wollen, beginnen sie vielleicht auch, darüber nachzudenken, welchen Sex sie eigentlich wirklich wollen.“ Damit meint Hess neue Spielarten zu finden, die abseits von Penetration und Orgasmus stattfinden. Und Sex als individuelle Angelegenheit wahrnehmen, in der jeder seinen eigenen Weg finden kann.
Im Leben queerer Menschen gibt es einige Übergangsriten. Das Coming-out etwa: Die Worte für sich und die Umgebung finden, um zu erklären, wer man ist, wen man begehrt. Dem voran geht oft eine jahrelange Auseinandersetzung mit sich selbst. Normen werden hinterfragt, eigene Sex-Vorlieben gefunden. Das können vermeintlich simple Fragen sein, wie: Bin ich Top? Bin ich Bottom? Also: Welche Position nehme ich beim Sex ein, welche Rolle? Diese werden mit Erfahrungen beantwortet, die zu einer komplexeren Sex-Klaviatur führt als sie viele straighte Menschen kennen. Der Vorwurf, der vielen queeren Menschen gemacht wird, sie würden sich zu sehr über Sex definieren, ist eine Bedingung der Gesellschaft, in der sie aufwachsen. Eine Gesellschaft, die Normen festlegt und alles außerhalb zum Anderen erklärt, mit der Bitte, diese Anderen mögen sich bitte erklären. Doch gleichzeitig ist es eine Auseinandersetzung mit sich selbst, die wichtig sein kann. Die Sexualität nicht als gegeben anzunehmen, sondern sie als Prozess verstehen, in dem jeder Begriff, jede Praxis hinterfragt werden kann und sollte – das erleben queere Menschen. Oft sind es Begriffe, die aus einer heterosexuell-normativen Perspektive entstanden sind, die queere Menschen sich aneignen mussten. Allein das Wort Queer ist ein Beispiel dafür. Von diesem Prozess könnten auch Heteros lernen.
Alex lebt in einem Hausprojekt in Berlin, in dem viele queere Menschen leben. Es gebe nicht oft Probleme mit den straighten Hausbewohner*innen, aber wenn doch, dann gehe es meist um ein Thema: Zustimmung. „Ich erlebe, dass es für Heterosexuelle unüblicher zu sein scheint, offen darüber zu sprechen, wo die eigenen Grenzen liegen. Und dass es ganz normal sein sollte, zu jeder Zeit nein sagen zu können“, sagt Alex, der sich selbst als queer identifiziert. Darum führten er und andere queere Mitbewohner*innen Gespräche, sie würden versuchen zu erklären, dass Kommunikation das Wichtigste sei. Er habe etwa erlebt, dass ein Mitbewohner andere während gemeinsamer intimer Situationen an Körperstellen berührt habe, an denen sie nicht berührt werden wollten. „Mehrere haben mit ihm darüber gesprochen, dass er die Grenzen dieser Menschen bitte respektieren solle. Doch es schien bei ihm kein Verständnis dafür zu geben – als wäre es für ihn selbstverständlich, Frauen anfassen zu dürfen.“
Er erzählt weiter: „Wir queeren Menschen müssen uns so ein großes Vokabular aneignen, um uns richtig verständigen zu können. Bei uns gibt es keinen ,normalen‘ Sex. Darum reden wir sehr offen mit unseren Sexpartner*innen darüber, was wir mögen und was nicht. Auch wenn das natürlich nicht bedeutet, dass es nicht auch unter queeren Menschen Übergriffigkeit gibt.“
Eine gewisse Übergriffigkeit hat Freya in ihrem Leben schon oft erlebt. Denn selbst das, was andere Menschen als „normal“ betrachten – Sex – ist ihr fremd. Bis kurz vor ihrem 27. Geburtstag hat Freya gedacht, dass sie einfach noch nicht die richtige Person gefunden habe. „Dann habe ich eine Nacht nicht schlafen können und bin auf ein Forum über Asexualität gestoßen. Je mehr ich las, desto mehr merkte ich: Das trifft ja alles auf mich zu“, sagt die heute 31-Jährige. Seitdem hat sie viele Gespräche geführt, mit Freund*innen, der Familie. „Ich kenne diese Verdutztheit von Menschen sehr gut, die nie darüber nachgedacht haben, dass für manche Menschen Sex einfach keine Rolle spielt“, sagt sie. Doch haben einige dieser Gespräche schon zu Überraschungen geführt. „Meine beste Freundin ist seit Jahren mit einem Mann verheiratet, hat sich immer für heterosexuell gehalten. Wir haben sehr viel geredet über meine Asexualität und je mehr wir uns ausgetauscht haben, desto klarer wurde ihr, dass sie eigentlich demisexuell ist“, sagt Freya. Demisexuelle Menschen können nur dann Freude am Sex empfinden, wenn sie eine emotionale Bindung zu der jeweiligen Person aufgebaut haben.
„Ich kann in mehreren Schubladen gleichzeitig stecken. Oder eben in keiner“
Das habe die Beziehung zwischen der Freundin und ihrem Mann sogar besser gemacht. „Das hat was ausgelöst bei denen, sie sprechen jetzt auch mehr über Sex und was ihnen dabei gefällt“, sagt sie. Hanna ist diese Freundin. Sie selbst sagt dazu: „Das hat mein eigenes Verhältnis zur Sexualität stark entkrampft.“ Sie habe nicht mehr das Gefühl, in eine sexuelle Schublade passen zu müssen. Es habe einen Knoten bei ihr gelöst, nicht allen Aspekten zu entsprechen, die heterosexuellen Menschen zugeschrieben werden. „Ich kann in mehreren Schubladen gleichzeitig stecken. Oder eben in keiner.“
Beziehungen können ganz unterschiedlich aussehen. Sie müssen nicht nur aus zwei Personen bestehen, nicht aus Mann und Frau. Und auch die übliche Vorstellung von Sex muss nicht zwingend Teil von ihnen sein. Freya hatte eine längere Beziehung mit einer Frau, sie haben über Heirat nachgedacht. Doch diese Beziehung ging in die Brüche. Nicht wegen der Asexualität: „Wir hatten andere Vorstellungen.“ Kürzlich hat sie einen netten Mann im Forum für asexuelle Menschen kennengelernt, sie werden sich bald treffen. „Er weiß schon jetzt, was ich möchte und ich weiß, was er möchte. Kuscheln mögen wir beide, Zungenküsse will ich nicht. Unsere Gespräche über Zustimmung sind einfach ganz andere. Wenn du dich so ausgiebig mit deiner Sexualität beschäftigen musstest, dann kommst du einfach zum Punkt.“