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Homosexualität: Coming-Out-Kolumne zu Online-Dating
Als Teenager begann unser Autor, ein Online-Tagebuch zu führen. Ziemlich ungefiltert schreibt er über das Hadern mit seiner Sexualität, unglückliche Lieben zu Hetero-Jungs, Probleme mit seiner Familie, eine Therapeutin, die ihn von seinem Schwulsein heilen will oder über die neue Welt, die ihm das Online-Dating eröffnet hat. Es begleitet seinen langen, harten und oft einsamen Weg zu seinem endgültigen Coming Out und zu der Person, die er heute mit 33 Jahren ist. In dieser Kolumne schreibt er seinem jüngeren Ich die Briefe, von denen er glaubt, dass sie ihm damals geholfen hätten – und hofft, den Weg für andere damit etwas leichter zu machen.
Augsburg, 2011:
Am Wochenende war ich in München. Es war Hans-Sachs-Straßenfest. Ein Homo-Straßenfest mit 20 000 Besuchern! Viel mehr erzähl ich jetzt gar nicht, aber: Fürs iPhone (und mittlerweile auch Android und Blackberry) gibt es eine App, die sich Grindr nennt. Mit ihr lässt man sich via GPS orten und bekommt dann Profile von Männern, die in der Umgebung sind, angezeigt (mit ungefährer Entfernungsangabe). So, in Augsburg passiert hier ungefähr folgendes: Zirp Zirp Zirp. Und dann mal alle 2 Wochen ne Nachricht von irgendeinem ätzenden Typen. In München passierte innerhalb von zwei Tagen was ganz anderes. 32 verschiedene Typen haben mir geschrieben. Finde den Fehler (an Augsburg). Jedenfalls wurde mein Ego hübsch gepushed :>
Köln, 2019:
„Lieber David,
juhu, die mobile Revolution des Online-Datings ist da! Seit du denken kannst, hast du so ziemlich jeden Erstkontakt mit Männern am Rechner hergestellt. Jetzt hast du die Fleischbeschau also endlich direkt in der Handfläche. Und keine Sorge, ich werde dir ganz sicher nicht raten, dich fern zu halten.
Du wirst Gejammer deiner Freunde hören, dramatische Blog-Posts und Artikel erleben und es selbst in vielen Dating-Profilen wie ein Mantra lesen: Das böse Online-Dating hat die gute alte Liebe brutal ermordet. Scheinbar dürfen Liebe, Romantik und Sex richtig oldschool nur in der „Realität“ passieren. Das Handy sollte maximal eine Rolle spielen, um am Morgen danach falsche Nummern auszutauschen, nachdem man sich besoffen vom Club in eine ranzige WG abschleppen ließ.
Witzigerweise wirst du keine zehn Jahre später oft nach Rat gefragt. Bei welchem Bild würden Frauen eher matchen? Und wie am besten den süßen Insta-Typen kontaktieren? Sowieso kennt 2019 jeder mindestens ein Paar, das sich online kennen gelernt hat – und niemand zweifelt an ihrer Liebe. Also mach mal schön weiter, du bist einfach Vorreiter, wenn auch wider Willen.
Kleinanzeigen, Hotlines, Chatrooms – und jetzt eben Apps. Fakt ist: Gibt es eine neue Technologie, werden Schwule da sein und Dating-Pionierarbeit leisten. Denn was uns Schwulen weitestgehend fehlt, ist die größte heterosexuelle Dating-Plattform von allen: der Alltag. Den Kommilitonen zum Abendessen einladen? Dem schönen Mann in der Bahn etwas zu lange in die Augen schauen? Dem Typen im Fitnessstudio ein Kompliment für sein Lächeln machen? Im Prinzip nett, aber wer wie du in der Praxis schon auf’s Maul bekommen hat, einfach nur, weil er angeblich „schwul aussieht”, der geht so ein Risiko nicht ein.
Auch im Szene-Nachtleben liegen deine Flirt-Skills ungefähr auf Stufe Holzklotz. Ein einziges Mal traust du dich rotzevoll, einem Jungen im Club zu sagen, wie süß du ihn findest. Als der nur benebelt grinsen kann, weil er bei Gin Tonic Nummer acht ist, schubst du ihn quer über die Tanzfläche, flüchtest und schämst dich monatelang. Die Situationen, in denen du angesprochen wirst, kannst du an einer Hand abzählen. Es wird Jahre dauern, bis du dein schwules Radar, dein Gaydar, entwickelst und dadurch die klitzekleinen Zeichen, Feinheiten und Blicke deuten kannst, mit denen Schwule flirten. Und wenn ich ehrlich bin: Manchmal steige ich bis heute nicht durch.
Durch die Apps verstehst du endlich, dass du keine asexuelle Kaulquappe in einem Fischtümpel bist
Du warst also mit tausenden Männern auf einem realen Straßenfest, der Egopush kam durch 32 virtuelle Nachrichten. Danach hast du mit ein einigen kurz hormongeladen getextet und zuhause maximal noch Pimmelbilder getauscht. Das erzählst du natürlich niemandem, denn du hast das Gefühl, dass das traurig und erbärmlich wirken würde. Aber diese Nachrichten bedeuten dir etwas. Weil du das Gefühl nicht kennst, dass dich jemand begehrt. Dass dir jemand sagt, dass du sexy bist. Dass dich jemand geil findet, den du auch geil findest. Dieses Gefühl ist neu für dich, überwältigend und überfordernd zugleich. Es ist eine Paralyse, die dich keinen dieser 32 Männer treffen lässt und ich verstehe das völlig.
Ja, ich weiß, Dating-Apps gelten als der Todescocktail für Romantik. Seine Bestandteile sind Oberflächlichkeit, Unverbindlichkeit und Darstellungssucht. Das stimmt zwar schon irgendwie, aber es kommt doch immer darauf an, wie man einen Dienst nutzt. Online muss nicht weniger wert sein als offline. Durch die Apps und Seiten verstehst du endlich, dass du keine asexuelle Kaulquappe in einem Fischtümpel bist, sondern ein Mann, den andere Männer begehrenswert und sexy finden können. Du hast zum ersten Mal richtigen Kontakt zu schwulen und bisexuellen Männern. Du flirtest, freundest dich an, wirst ignoriert, schwärmst, blitzt ab, witzelst, vergibst Körbe, verknallst dich – und all das sickert nach und nach auch in dein „reales“ Leben. Du erfährst mehr über Lust, Sex, Liebe, Beziehungskonstrukte, Geschlechtskrankheiten und Safersex als während deiner gesamten Schulzeit. Angstfrei und sicher. Du fühlst dich zum ersten Mal so etwas wie normal – und fragst dich im selben Atemzug, was „normal“ eigentlich bedeutet. Darum ist Online-Dating mehr für dich als nur Matchen und Dickpics. Lass die anderen labern. Online-Dating ist toll!
Zwischendurch wirst du sowas wie süchtig
Also genieß es, begehrt zu werden, tobe dich aus, finde Antworten auf Fragen, die du dir schon lange stellst, und auf solche, die du noch gar nicht erahnst. Aber – natürlich gibt es ein aber – ich muss dich auch warnen: Bitte begehe auf keinen Fall den Fehler, dein Wohlbefinden von Apps bestimmen zu lassen. Die Zahl der Männer, die auf der Stelle mit dir in die Kiste springen würden, ist nicht deine Platzierung in den Selbstwert-Charts. Klingt logisch, aber manchmal ist es schwierig, diesem Trugschluss nicht zu erliegen. Du wirst viel zu viele Nächte mit Scrollen und Wischen verbringen, ohne Plan, was du eigentlich suchst. Ja, du wirst zwischendurch sowas wie süchtig. Lösch alles, mach ein bisschen Detox und fang langsam wieder an.
Du wirst auch etwas tun, was du früher verteufelt hast: dich nur für Sex mit Männern treffen. Und du wirst auch das sehr genießen. Viele dieser Männer werden dir später egal sein. Bei einigen wirst du dich fragen, warum du nicht einfach allein an dir herumgespielt hast. Manche Männer wirst du auch bereuen. Aber es wird mindestens diesen einen geben, der richtig sein wird.
Aber dazu mehr in einem anderen Brief. Dir schreibt da gerade nämlich schon Herr 33.
CU und HDL,
Dein David“