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„Nachdem du gekommen bist, überkommt dich das Schamgefühl“

Illustration: Federico Delfrati

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Als Teenager führte unser Autor ein Online-Tagebuch. Es begleitete seinen langen, harten und oft einsamen Weg zu seinem Coming-out und zu der Person, die er heute ist. In dieser Kolumne schreibt er heute, mit 33, seinem jüngeren Ich die Briefe, von denen er glaubt, dass sie ihm damals geholfen hätten.

Allgäu, 2011

„Manchmal wünsche ich mir wirklich, ich könnte einfach mit vielen Menschen schlafen. Einfach ohne Herz durch die Gegend vögeln und daraus mein Hochgefühl fürs Leben ziehen. Aber ich bin so nicht. Ich bin ... zu sehr Disney-Prinzessin für diese ganze Welt. Ich sage etwas, das ich sehr selten sage, aber ich hasse es, schwul zu sein. Nicht, dass die Heterowelt besser wäre, haha, sogar an die hab ich meinen Glauben verloren, darum ist mir das alles mittlerweile so egal. Am liebsten würde ich mir meine Eier abhacken, die Prostata entfernen lassen und nen künstlichen Blasenausgang legen lassen. Dann noch alles, was irgendwie mit Lust zu tun hat, betäuben und mein Leben leben.“

Köln, 2019:

„Lieber David,

du hast hier und dort schon mal gesagt bekommen, dass du manchmal einen Hauch Dramatik an den Tag legst. Unerhört und absolut nicht nachvollziehbar findest du das. Aber kleiner Reality-Check von mir: Sich wegen Liebeskummers alle Genitalien entfernen zu lassen, ist doch ein klitzekleines bisschen over the top. Selbst für Telenovela-Fans von Sturm der Liebe wohl eine Prise zu melodramatisch. Also kurz durchatmen, runterkommen und dann tauchen wir gemeinsam ein in das Thema, das dich trotz Coming-out ratlos macht wie kein anderes: Sex.

Das ist mir mehrmals aufgefallen beim Lesen deiner Einträge. Seit du ein Teenager bist, verbietest du dir, deine Sexualität zu entdecken. Zwar hatten in der Schule natürlich schon alle darüber gesprochen, Pornos geschaut und manche hatten es angeblich schon mal gemacht, aber wirklich gecheckt, was das alles bedeutet, hast du nicht. Typischer Spätzünder. Und dann war Sex ja auch immer Tabuthema. In der Familie aber auch unter Freunden. In der Kirche sowieso.

Der Sexualkundeunterricht war nicht gerade, nunja, aufklärend

Aber auch in der Schule. Der Sexualkundeunterricht dort war nicht gerade, nunja, aufklärend. Deinem Lehrer war das alles ganz offensichtlich schrecklich unangenehm. Bis heute bin ich fasziniert, wie leise ein Mensch eigentlich sprechen kann. Fragen waren nicht erlaubt und du lerntest genau zwei Sachen: „o.b.“ steht für „ohne Binde“ und Mädchen sollen ihren Zyklus in einem Kalender dokumentieren. Falls ihnen das peinlich sein sollte, können sie auch einfach ein Symbol dafür verwenden. Cool, wenn Mädchen also schon vermittelt wird, dass ihre Periode etwas Peinliches ist, wie schambehaftet muss dann wohl alles andere sein?

Von Abweichungen von der Heterosexualität war jedenfalls mit keinem Satz die Rede – und somit natürlich auch nicht davon, dass Homosexualität kein Drama ist. Allgemein wächst du wahnsinnig verklemmt auf in der konservativen Provinz, du verbindest Sex mit Scham und Sünde – mehr oder weniger unterbewusst. Von schwulem Sex wollen wir erst gar nicht sprechen.

Jetzt denkst du: Stopp, das war früher – es ist 2011, ich bin schwul und endlich ist das bei mir auch gut so! Stimmt, du bist schwul, aber als wirklich gut empfindest du das noch nicht. Sonst würdest du ja nicht schreiben, dass du es hasst, schwul zu sein. Das ist natürlich völliger Quatsch – und vor allem richtest du die Wut auf jemanden, der sie in diesem Fall wirklich nicht verdient: auf dich.

Weißt du, das Fiese an den Moralvorstellungen aus der Jugend ist, dass sie sich ganz tief in dir einwanzen. So tief, dass du gar nicht verstehst, dass sie die ganze Zeit da sind. Und jedes Mal, wenn deine sexuellen Bedürfnisse und Fantasien zu real werden, flüstern dir diese Parasiten noch leiser als dein Biolehrer ins Ohr: „Schäm dich, Perversling!“

Du denkst, schwuler Sex geht gerade noch so klar, wenn man Liebe füreinander empfindet

Ganz besonders deutlich wird dir das in einer Situation: Beim Wichsen. Du liegst im Bett, schmeißt einen Porno an und holst dir einen runter. Wie übrigens so ziemlich alle anderen Männer auch. Aber sofort, nachdem du gekommen bist und eigentlich noch tiefenentspannt die Glückshormone genießen solltest, überkommt dich das Schamgefühl und das schlechte Gewissen. Jedes. Verdammte. Mal. Jahrelang. Im Kopf bist du zwar cool mit deiner Homosexualität – aber dein Unterbewusstsein hat so gar nicht mitgezogen.

Lass uns mal ehrlich sein: Du denkst, schwuler Sex geht gerade noch so klar, wenn man die absolut tiefste und innigste Liebe füreinander empfindet. Und das alles am besten so, dass es niemand jemals mitbekommen und sich daran stören könnte. Alles andere? Moralischer Verfall. Hauptsache, nicht mit zu vielen Menschen schlafen. Dass du damit Menschen beleidigst und als minderwertig einstufst, nur weil sie nicht in dein moralisches Konstrukt passen, merkst du nicht einmal. Es ist ganz schön erschreckend, wenn man realisiert, dass man sich selbst an Moralvorstellungen misst, bei denen der Biolehrer eine stolze Freudenträne vergossen hätte. Mach dir das mal bewusst!

Mich nervt es gerade schon unsagbar, diese Gefühlsambivalenz nur in Worte zu packen. Aber ich weiß, dass das noch so viel mehr nervt, wenn man gerade Anfang 20 ist, bis jetzt jegliche Sexualität unterdrückt hat und gleichzeitig so horny ist, dass man als Übersprungshandlung beinahe einen Baumstamm bumsen würde. Und am Ende geht alles zurück auf diese ätzende, hartnäckige Scham.

Du wirst eine Weile lang sein, worüber du dich gerade noch moralisch erhebst

Am liebsten würde ich sie dir sofort abnehmen und dir so viel erklären. Zum Beispiel, dass man tollen, bedeutungsvollen, intimen Sex haben kann, ohne sich groß zu kennen. Oder danach heiraten zu müssen. Dass Sex keine Performance ist, bei der man sein Gegenüber beeindrucken muss. Dass Sex kein Drehbuch hat und auch nicht ablaufen muss wie im Porno. Dass Sex mit und ohne Gefühle zwei sehr unterschiedliche Dinge sind – und beides schön sein kann. Dass man sich zwischenmenschlich verstehen kann, aber körperlich überhaupt nicht – und andersherum. Oder dass es spannend sein kann, sich fallen zu lassen und sich, seinen Körper und seine Seele zu entdecken. Und dass das alles absolut okay ist und nichts, wofür sich irgendjemand schämen sollte.

Leider geht das nicht so einfach. Tatsächlich wirst du erst mit 30 Jahren, nach deiner ersten langen Beziehung, beginnen, deine Sexualität und deine Lust wirklich zu erkunden. Du wirst dann tatsächlich auch eine Weile sein, worüber du dich gerade noch moralisch erhebst: jemand, der mit vielen Menschen schläft. Aber du wirst dich auch nicht mehr dafür schämen, denn es ist völlig ok, sich auszuleben, wenn man es möchte oder sogar braucht. Klar wäre es schön, wenn du deine kompletten 20er, aka deine körperliche Blüte, nicht total verkrampft mit dem Versuch verbringen würdest, auf keinen Fall sooo ein Schwuler zu werden. Aber zu manchen Erkenntnissen muss man leider einfach selbst gelangen, nicht wahr?

Sex sollte einem ein gutes, schönes Gefühl geben. Befriedigung eben, ohne schlechtes Gewissen. Manche Menschen entdecken dieses Gefühl nie. Manche Menschen jagen ihm ein Leben lang nach. Manche Menschen zerstören ihre Beziehungen, weil sie ihre Sexualität nicht verstehen. Manche Menschen holen sich ihre Bestätigung und ihren Selbstwert durch Sex. Klar, man muss aufpassen. Aber ganz ehrlich? Kein Sex ist einfach keine Option für dich.

Bussi,

David

PS: Dass Safer Sex Pflicht ist, müssen wir ja zum Glück nicht mehr besprechen.“

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