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Auch wer sich nicht für homophob hält, ist es oft

Illustration: Federico Delfrati

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Als Teenager führte unser Autor ein Online-Tagebuch. Es begleitete seinen langen, harten und oft einsamen Weg zu seinem Coming-out und zu der Person, die er heute ist. In dieser Kolumne schreibt er heute, mit 33, seinem jüngeren Ich die Briefe, von denen er glaubt, dass sie ihm damals geholfen hätten.

Davids Tagebucheintrag von damals:

Augsburg, 2009

Ich bin gerade zum Bahnhof gefahren und dort aus der Straßenbahn gestiegen. Mit lauter Musik in den Ohren gehe ich also in Richtung Halle. Bei den Bänken steht ein assliger Typ, starrt mich an, während sein Kumpel an einen Baum pisst. Plötzlich meint er irgendwas und ich –obwohl ich es schon hätte ahnen müssen – nehme einen Hörer aus dem Ohr und frage: Was? Darauf bekomme ich ein herzliches: „Schwuuuhhchteel.“ Ich meine nur: „Achso.“ und mache meine Ohren wieder zu.

Keine Ahnung, was ich trauriger finden soll: ihn oder die Leute, die hinter mir laufen und lachen. Sie haben mir damit mal wieder gezeigt, dass man nie so sein kann, wie man ist. Die Frage, die mich aber wirklich mal interessieren würde... WARUM WERD IMMER ICH ANGEMACHT??? Ich hab langsam einfach keinen Bock mehr drauf ):“

Davids heutiger Brief an sein altes Ich:

Köln, 2019

Lieber David,

zehn Jahre ist diese Situation jetzt her, keine 30 Sekunden hat sie gedauert. Trotzdem sehe und höre ich bis heute jedes kleine Detail vor mir. Das Traurige: Solche Vorfälle sind nichts Besonderes für dich. Eigentlich sind sie – und vor allem die Angst vor ihnen – Alltag.

Es passiert mal mehr, mal weniger beiläufig. Einmal sitzt du mit einer Freundin auf dem Augsburger Rathausplatz, als ein Herr mit euch über Gott sprechen möchte. Nach kurzem Hin und Her attestiert er dir besorgt, dass du so nicht in den Genuss von Gottesgnadentum kommen würdest. Ein anderes Mal steigst du nach der Uni in die Straßenbahn und bemerkst, wie sich eine Gruppe Jugendlicher über „die Schwuchtel da vorne“ lustig macht. Du fühlst dich unsicher und läufst lieber nach Hause. In Wien beschimpft dich einmal ein Obdachloser und schlägt dir die Brille aus dem Gesicht.

All das, weil dich keine Zuchtbullenaura umgibt, sondern eher Einhornvibes. Du trägst gerne bunte Kleidung, gestikulierst wild, hoppst beim Gehen etwas fluffiger als der Durchschnittsmann und zu deiner Stimme komme ich gleich noch. Du fällst einfach auf, egal ob du nun willst oder nicht. Warum genau das wildfremde Leute so unendlich auf die Palme bringt, kann dir niemals jemand beantworten.

Seine Kollegin kritisiert ganz selbstverständlich, dass du zu schwul klingst

Es trifft dich immer wieder aufs Neue, egal wie sehr du dir bewusst machst, dass die anderen Menschen das Problem haben und nicht du. Da ist diese eine Situation am Arbeitsplatz, du bist knapp 30, läufst mit Kollegen blödelnd zur Kantine. Ihr geht an einem jungen Mann um die 20 mit Freundin im Arm vorbei, offensichtlich Besucher. „Buäh, wie schwul“, sagt er und starrt dir mitten ins Gesicht. Niemand außer dir bemerkt es, aber du bist völlig erschüttert, fühlst dich machtlos und alleine.

Abends hackst du deine Gefühle in einen langen, wütenden Facebook Post: „[...] Das ist schlimm für mich, weil [der Arbeitsplatz] einer von gerade mal zwei relativ ‘sicheren Orten’ für mich ist (der andere ist meine Wohnung). Bzw. war, denn ja, das ist jetzt erst mal kaputt. Danke für nichts. Ich fühlte und fühle mich erniedrigt, verletzt und einfach traurig. So ätzend, weil ich mir jetzt wieder tagelang den Kopf zerbreche, während der Typ sein Bier kippt, in den Sessel furzt und Mario Barth schaut. […]“ Leider wirst du recht behalten. Du bist immer auf der Hut.

Wenn wir schon dabei sind, erlebst du in deinem Arbeitsleben auch ziemlich merkwürdige Dinge. In einem Radio-Praktikum erklärt dir ein Redakteur, ironischerweise selber schwul, dass du bei der nächsten Reportage „machohafter“ sprechen solltest, da du „sehr freundlich“ klingen würdest. Anders als seine Kollegin. Sie kritisiert ganz selbstverständlich, dass du zu schwul klingst. An anderer Stelle bekommst du gesagt, du würdest zu „nasal“ und zu „melodisch“ sprechen. Harte Themen nähme man dir nicht ab. Nach einem Einstufungstest für ein Volontariat bekommst du gespiegelt, dass du inhaltlich zwar stark gewesen wärst, aber zu „merkwürdig“ klingen würdest. Es fällt der Satz: „Eine Stufe schlechter wäre knapp an einer Sprechbehinderung vorbei.“

Am absoluten Nullpunkt resignierst du und hängst deine beruflichen Träume an den Nagel

Passiert das alles wirklich? Du kommst dir paranoid vor. Immerhin arbeitest du in den Medien und die gelten doch als so offen! Du versuchst dich zu verbiegen, gehst zur Logopädie, lässt sogar deine Nase operieren. Nichts hilft. Das alles macht dich nur sehr, sehr unglücklich. Wenn du offen über deine Frustration sprichst, nimmt dich niemand ernst, niemand steht dir zur Seite. Du bist eben David, die aufmerksamkeitsgeile Drama Queen. Passt zufälligerweise auch noch perfekt ins schwule Klischee. Du fühlst dich allein, verarscht und dumm. Du stellst deine Fähigkeiten und dein Können in Frage. Am absoluten Nullpunkt resignierst du und hängst deine beruflichen Träume an den Nagel.

Und als würde diese ganze Kaskade an Homophobie nicht reichen, kommen dann auch noch die vermeintlich nicht-homophoben Menschen, die dir unverblümt sagen, dass sie sich dir all diese Erlebnisse kaum glauben könnten. Und dann stehst du da und machst dir Gedanken, ob sich womöglich dein Gehirn verflüssigt hat und du schlicht verrückt geworden bist. Dieses Gefühl zermürbt dich und du versinkst in Selbstzweifeln.

Aber ich kann dir sagen: Es ist real und es passiert immer wieder. Nicht nur dir. Du kennst Menschen, die aus Autos heraus angepöbelt werden. Du erfährst von zerstörten Karrieren nach Coming-outs oder Outings. Du triffst Menschen, die aus Angst ihr komplettes Privatleben verstecken – oder eines erfinden, samt bester Freundin in der Rolle der Partnerin. Manche LGBT+ übernehmen sogar den negativen Blick auf ihre eigene Sexualität und verhalten sich anderen LGBT+ gegenüber besonders mies und unfreundlich. Ihren Selbsthass bringen sie so aber übrigens auch nicht zum Schweigen.

Die Gesellschaft findet LGBT+ in Ordnung, solange man kaum merkt, dass sie LGBT+ sind

Immerhin wird das alles weniger und je älter du wirst, desto besser kannst du damit umgehen. Du gehst deinen Weg. Trotzdem, wirklich reibungslos läuft es auch 2019 noch nicht. Wir leben in einer Gesellschaft, die LGBT+ in Ordnung findet, solange man ihnen so wenig wie möglich anmerkt, dass sie LGBT+ sind. Das ist zu gleichen Teilen paradox wie zum Kotzen.

Deswegen musst du mir jetzt ganz genau zuhören: Du bist nicht das Problem. Das Problem ist Homophobie, egal ob offen oder versteckt. Ich weiß, das tröstet wenig. Ach, es wäre auch gelogen, würde ich sagen, es hätte mir nichts ausgemacht, als mir letztes Jahr ein vielleicht 18-jähriges Mädchen ein angewidertes „Schwuchtel“ entgegengerotzt hat.

Ich bin auch unendlich genervt, dass ich bis heute als Political-Correctness-Polizei belächelt werde, weil ich nicht akzeptieren will, dass Worte wie „schwul“ oder „behindert“ immer noch als Synonyme für „scheiße“ verwendet werden. Unzerstörbare Schutzschilde findest du keine, aber du wirst aufhören, zu schweigen, lässt dir nicht stumm alles gefallen und setzt dich auch für andere ein.

Wenn du etwas lernen kannst aus all dem Hass, der dir entgegenschlägt, dann dass Homophobie nur ein Ziel hat: Sie will, dass du dich für dich selber schämst. Aber sorry, dieses Spielchen hast du lange genug gespielt. Du bist ziemlich cool, so wie du bist und du bist glücklich, wenn du dich nicht verstellst. Du wirst in deinem Leben nicht nur einmal hören, dass du Menschen dazu inspirierst, sie selbst zu sein, weil du es ohne wenn und aber bist. Deswegen ist der wichtigste Rat wie folgt: Sei du selbst. Ohne Kompromisse.

Nasale, melodische und ganz besonders freundliche Grüße,

Dein David“

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