- • Startseite
- • Fußball
-
•
EM 2016: Relativer Altersunterschied
Viele Jugendliche träumen davon, Profisportler zu werden. Sie disziplinieren sich, achten auf die Ernährung und rennen durch den Wald, wenn andere noch ausschlafen. Die Idee vom Leistungssport ist die von Kontrolle. Kontrolle über den Ball, den Körper, das Spiel und den Wettbewerb. Doch was, wenn Leidenschaft und Fleiß zu nichts führen? Was, wenn ein ganz anderer Faktor darüber entscheidet, wer erfolgreicher Profi wird?
In den 80ern besuchte Roger Barnsley ein Eishockeyspiel in Kanada. Es spielten zwei der besten Juniorteams weltweit. Als das Spiel erlahmte, blätterte Barnsley im Programmheft. Etwas machte ihn stutzig: Die meisten Spieler waren im Januar, Februar oder März geboren. Ein merkwürdiges Muster. Barnsley sammelte Daten zu weiteren Eishockeyprofis jeden Alters. Der häufigste Geburtsmonat war Januar, der zweithäufigste Februar. Barnsley hatte den Relativen Alterseffekt entdeckt.
Der Relative Alterseffekt geht davon aus, dass die Ältesten eines Jahrgangs Vorteile haben. Ein Beispiel: Cristiano Ronaldo wurde (wirklich) am 5. Februar geboren, Luís Salazar (nur so zum Vergleich) am 31. Dezember 1985. Obwohl beide zum selben Jahrgang zählen, ist Cristiano beinahe ein ganzes Jahr älter als Luís. Laut Barnsley sind bereits wenige Monate Altersunterschied im körperbetonten Sport entscheidend. Ältere sind häufig größer, haben eine bessere körperliche Kondition und wirken insgesamt reifer.
Würden Talentscouts auf beide Jungs schauen, wären sie sich darüber einig, dass Cristiano die größere Begabung hat. Dabei trügt dieser Eindruck. Weil Cristiano eben älter ist.
Arjen Robben wurde im Januar geboren, Cristiano Ronaldo im Februar und Manuel Neuer im März
Im kanadischen Eishockey sortieren Jugendmannschaften anhand des 1. Januar. Das ist der Stichtag. Frühjahrskinder sind die Ältesten eines Jahrgangs. In diesem System ist Cristiano jemandem wie Luís weit überlegen. Als Talent wird er gefördert und erhält ein besseres Training. Sein Vorteil gegenüber Luís wächst fortan. Wie auch sein Selbstvertrauen in die eigene Leistung. Unter den Fußballstars sind viele Profis zu finden, denen der Relative Alterseffekt zugute kam. Arjen Robben wurde im Januar geboren, Cristiano Ronaldo im Februar und Manuel Neuer im März. Sie waren mit die Ältesten in ihren Jugendteams.
Seit Barnsley haben zig Studien den Relativen Alterseffekt belegt. Im amerikanischen Baseball sind beispielsweise viele Profis im August geboren, da der Stichtag der Jugendmannschaften auf den 31. Juli fällt. In England sind auffallend viele Fußballer Herbstkinder. Dort wird anhand des 1. September sortiert. Auch in Deutschland wurde viel zum Relativen Alterseffekt geforscht. Doch reicht ein schneller Blick auf die jungen Nationalmannschaften des Deutschen Fußballbundes (DFB) bereits aus: Beinahe die Hälfte der Spieler in U15- bis U21-Teams wurde im Frühjahr geboren. Denn der Stichtag ist der 1. Januar.
Doch nicht nur im Sport sind Zusammenhänge zwischen Geburtsmonat und Erfolg belegt. Der Relative Alterseffekt gilt auch im Bildungssystem. Für die USA und Chile gibt es zum Beispiel Studien dazu, dass die Jüngeren einer Klasse häufiger das Schuljahr wiederholen. Laut britischen Psychologen sind sie auch anfälliger für psychische Erkrankungen wie Depressionen. Weil sie sich andauernd mit den Besseren und Älteren vergleichen. Kanadische Forscher sammelten alle Berichte zu Selbstmorden bei unter 20-Jährigen in der Provinz Alberta. Zwischen 1979 bis 1992 waren es häufig die Jüngsten ihrer Schulklassen, die sich selbst töteten. Schulpsychologen raten daher, die vorzeitige Einschulung gesetzlich zu verbieten.
Die Studien zum Relativen Alterseffekt sind bekannt. Als Lösung schlagen amerikanische Pädagogen vor, Schulklassen nach Jahreszeiten zu sortieren. Leistungsunterschiede zwischen Herbstkindern sind marginal. Auch für den Jugendsport wäre das eine Option. Der Kampfsport unterteilt nach Gewichtsklassen. Dort konnte kein Relativer Alterseffekt belegt werden. Für den Fußball könnten Nachwuchsspieler zum Beispiel nicht nach Alter, sondern nach Größe, Gewicht und Ausdauert gruppiert werden.
Der DFB wurde schon häufig auf Relative Alterseffekte hingewiesen. DFB-Direktor Ulf Schott meint dazu, die vielen regionalen Ausbildungszentren würden jungen Spielern helfen, die es nicht sofort in Nationalteams schaffen. Langfristig plane der DFB, seine Trainer besser auszubilden. Anstelle auf körperliche Stärke, sollen diese mehr auf das Talent achten. Derzeit funktioniert das noch nicht, wie die Daten zu den U15- bis U21-Mannschaften zeigen.
Im EM-Kader der deutschen Nationalmannschaft fällt der Relative Alterseffekt nicht ins Gewicht. Zum einen muss der Bundestrainer beim Zusammenstellen seiner Profis nicht auf das Alter achten. Zum anderen lassen sich die körperlichen Unterschiede bei Erwachsenen nicht mehr durch wenige Monate Altersdifferenz erklären.
Grundsätzlich haben all diese Studien ein Problem: Sie vereinfachen. Mal rechnen sie Faktoren wie das Familienumfeld oder den finanziellen Hintergrund mit ein. Mal wird dergleichen ignoriert. Dass es den Relativen Alterseffekt gibt, bleibt unumstritten. Kann alles mit ihm begründet werden? Eher nicht. Doch zeigt er auf, dass die Annahme, die Besten und Talentiertesten würden sich allein wegen ihrer besonderen Fähigkeiten durchsetzen, so nicht stimmt. Chancengleichheit ist ein schöner Gedanke. Der Relative Alterseffekt beschreibt hingegen ein System — ob im Sport oder der Bildung — das diese verhindert. Talente werden vergeudet.
Lionel Messi wurde im Juni 1987 geboren. Von einem Relativen Alterseffekt konnte er nicht profitieren. In der Jugend litt er auch noch an einer Wachstumsstörung. Mit 13 Jahren war er etwa 1,40 Meter groß. Argentinische Mannschaften lehnten ihn ab. Er sei körperlich nicht reif genug für den Spitzensport. Talentscouts des FC Barcelona sahen das anders. Und mit viel Eifer schaffte er den Durchbruch. Heute gilt er als bester Fußballspieler weltweit. Manchmal muss man eben hartnäckig bleiben. Und darf sich nichts einreden lassen.