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Rassismus beim Fußball
Ich war kürzlich privat zur EM in Frankreich. Bei zwei Spielen sogar. Einmal beim Achtelfinale Deutschland gegen die Slowakei in Lille. Und dann auch beim Viertelfinale, Deutschland gegen Italien in Bordeaux. Beides interessante Spiele. Ich habe sogar ein zu großes Deutschland-Trikot getragen und auf meine Hände gebissen beim Elfmeterschießen. Das war schön. Und trotzdem gibt es da eine Sache, die all diese Erinnerungen auch jetzt noch übertönt: Als Mesut Özil in der 13. Minute gegen die Slowakei den Elfmeter verschoss, rief jemand hinter mir "Scheiß Kanacke!".
Ich drehte mich um, versuchte, den Sprecher auszumachen. Hinter mir stand eine ganze Gruppe angetrunkener Männer mit schwarz-rot-gelben Blumenketten, die wütend die Hände über den Kopf rissen. "Pissnelke", "Arschloch" – das alles hatte ich bereits vorher über Özil gehört. Aber "Kanacke", das war ein neues Niveau. Das war eindeutig rassistisch, über Thomas Müller hätten sie das nicht gesagt. Diese Männer waren es dann auch, die später, als es bereits 3:0 für Deutschland stand, in die deutsche Nationalhymne einstimmten. Ich habe mich wahnsinnig für sie geschämt. Und für mich. Weil ich es nicht geschafft habe, etwas dagegen zu sagen.
Warum machen Menschen, die sich empören würden, wenn jemand ihren Arbeitskollegen als "Scheiß Kanacken" beschimpft, beim Fußball einmal eine Ausnahme?
Dass es beim Fußball, wie überall in der Welt, Rassisten gibt, ist natürlich nicht überraschend. Was mich aber doch überrascht hat ist, mit welcher Selbstverständlichkeit in meinem Bekanntenkreis diese Geschichte runtergespielt wurde. "Das darf man nicht so ernst nehmen, die hatten ja getrunken", sagten Freunde. Oder "Beim Fußball kochen halt die Emotionen hoch. Da rutscht sowas mal raus." Und ich fragte mich: Warum machen Menschen, die sich sicher empören würden, wenn jemand ihren Arbeitskollegen als "Scheiß Kanacken" beschimpft, beim Fußball auf einmal eine Ausnahme?
Um Antworten auf diese Frage zu finden telefoniere ich mit Prof. Dr. Gunter A. Pilz. Pilz ist insofern besonders interessant, als dass er Fußball jahrelang aus sportsoziologischer Sicht an der Universität Hannover untersucht hat. Gleichzeitig ist er Mitglied und Vorsitzender von diversen DFB-Gruppen für gesellschaftliche Verantwortung, Fair-Play und gegen Rechtsextremismus und Homophobie. Gunter A. Pilz kennt den Fußball also von beiden Seiten.
Was schon einmal gut ist: Er versucht nicht direkt die Geschichte runterzuspielen und sagt, dass er meine Mail auch dem DFB weitergeleitet habe. "Was Sie in Frankreich erlebt haben, muss man natürlich beklagen und dafür massiv sensibel sein. Der DFB hat in seinen Statuten ein klares Bekenntnis für Vielfalt und gegen Diskriminierung. Aber nur, wo diese Dinge auch gemeldet werden, kann man handeln", sagt Pilz. Und handeln, das würde der DFB aus seiner Sicht. Mit Kampagnen, Arbeitsgruppen, Stadionverweisen. Trotzdem wirbt auch Pilz für ein bisschen Verständnis für die Fans – schließlich sei das Fußballstadion ja einer der letzten, geschützten Räume, in denen Menschen in unserer verregelten und Emotionen unterdrückenden Gesellschaft noch den Gefühlen freien Lauf lassen können. "Im Sinne der Katharsis kann das durchaus eine positive Wirkung haben kann. Aber man muss eine Grenze ziehen", sagt Pilz.
"Spiel endlich richtig, du Kackarschmongole“, sagte eine Mutter zu ihrem Sohn. Als die Wissenschaftler sie mit der Aussage konfrontierten, behauptete sie, so etwas nie gesagt zu haben.
Automatisch kommt mir der Vergleich mit dem Auto in den Kopf: Wenn ich mich im Straßenverkehr aufrege, sage ich auch manchmal Dinge, die ich außerhalb des Wagens nie sagen würde. Ich würde behaupten, dabei nicht rassistisch zu werden. Aber "Wichser" fällt dann manchmal. Oder "Schlampe". Eigentlich verrückt, was da auf einmal aus einem hervorbricht.
Als Beispiel für einen ähnlichen Fall wie im Stadion erzählt mir Pilz ein spannendes Experiment, das er mit seinen Studenten gemacht hat: Gemeinsam haben sie sich bei einem Fußballturnier von Kindern hinter die Mütter am Spielfeldrand gestellt und heimlich aufgezeichnet, was diese ihren Kindern zubrüllen. "Das ging von 'Brich ihm die Knochen' über 'Der kann nichts' bis hin zu 'Bewegungslegastheniker'. Die Krönung war aber, dass eine Mutter zu ihrem eigenen siebenjährigen Sohn brüllte: 'Spiel endlich richtig, du Kackarschmongole.'" Als die Wissenschaftler die Mutter mit der Aussage konfrontierten, behauptete diese, so etwas nie im Leben gesagt zu haben. "Wir haben es ihr dann vom Band vorgespielt. Die Frau war glaubhaft fürchterlich entsetzt. Das war ihr überhaupt nicht bewusst", erinnert sich Pilz. Für ihn ein klares Indiz, dass sich Menschen aus emotionalen Situationen heraus tatsächlich nicht immer unter Kontrolle haben.
Das Fußballstadion sollte eher als Seismograph für fremdenfeindliche Stimmungen in Deutschland betrachtet werden.
Aber sind solche Erkenntnisse nicht eine Art Freifahrtschein für Rassisten? So nach dem Motto "Da stand ich neben mir?" Gunter A. Pilz sagt dazu: "Man muss sich die Leute sehr genau angucken. Hinter 'Scheiß Kanacke' steckt vielleicht auch eine rechte Gesinnung, diese Leute tragen dann oft auch rechte Symbole und lassen es nicht nur bei einer rassistischen Beleidung bleiben." Solche Personen zurechtzuweisen kann dann auch gefährlich werden, dann sollte man lieber Ordner ansprechen. Aber auch normale Durchschnittsbürger, die sich auf einmal derart äußern, sind aus Pilz' Sicht gefährlich: "Diese emotionale Stimmungen können nämlich von den wirklich Rechtsradikalen instrumentalisiert werden."
Ich muss natürlich sofort an die Gauland-Debatte denken, der angeblich gesagt haben soll, einen wie Jerôme Boateng nicht zum Nachbarn haben zu wollen. Ein bescheuertes rassistisches Vorurteil und dabei inhaltlich auch noch völlig verquer: Boateng ist, verdammt noch mal, genau wie Özil in Deutschland geboren. Funktioniert hat es trotzdem: Auf einmal wurde über deren "Integration" diskutiert. Die Integration von Deutschen in Deutschland.
Tatsächlich sagt auch Gunter A. Pilz, dass ein Fußballstadion mit seinem homogenen Publikum nicht automatisch ein verstärkter Rassisten-Treff ist. Sondern eher als Seismograph für fremdenfeindliche Stimmungen in Deutschland betrachtet werden kann. "Seismograph heißt in diesem Fall aber auch: Weil der Fußball besonders im öffentlichen Fokus steht, diese Phänomene dort besonders wahrgenommen werden. Aus zwei Gründen: Der Aufmerksamkeit der Medien und einer zunehmend aktiven Fanszene, die solche Vorfälle an den Pranger stellt." Aber auch von Seiten der Verbände passiert natürlich etwas: Mittlerweile kennt ja jeder die "No to racism"-Aufkleber, Plakate und Spots, mit denen Fußballspieler heute förmlich zugeklebt werden. Aber ist das vielleicht auch mehr Show als tatsächliches Handeln? Hält das irgendeinen wütenden Fan von rassistischen Kommentaren ab?
Nach dem Gespräch fühle ich mich ganz schön erschöpft. Was wurde denn aus dem Sport als große Integrationsmaschine? Dem Stadion als Ort, in dem man zumindest für neunzig Minuten sehr genau weiß, mit wem man an einem Strang zieht? Gunter A. Pilz sagte am Ende noch über Integration: "Integration heißt ja nicht: Ihr seid alle willkommen aber passt euch an. Sondern sie bedeutet auch, sich gegenüber anderen zu öffnen. Sie nicht zu tolerieren, sondern anzuerkennen." Aber eben auch: handeln.
Dementsprechend habe ich von ihm auch noch einen berechtigten Rüffel mitbekommen: Sich über Rassismus in einem Artikel beschweren, aber im entscheidenden Moment nichts tun, sei Teil des Problems. Ich habe dann noch etwas von "Aber die waren ja viele" gestammelt. Aber, wenn ich ehrlich bin: Wie gewalttätige Hooligans sahen die "Kanacke"-Brüller nicht aus. Eher wie besoffene Familienväter. Hätten die abseits der Arena jemanden derart beschimpft – vermutlich hätte ich etwas gesagt. Der Unterschied zwischen Stadion und Realität ist also auch in meinem Kopf.