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Die unfassbaren Gefühle
Die Frage:
Gefühle sind wissenschaftlich kaum greifbar, manchmal fällt es uns selbst schwer zu beschreiben, wie wir uns fühlen. Kann man Emotionen überhaupt erforschen?
Die Antwort
... suchen wir bei Alexander Kochinka, der sich etwas ungewöhnliche Forschungsobjekte ausgesucht hat, um den Emotionen auf den Grund zu gehen: Tagebücher.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
„Ich fand das so süß, dass er mich nicht geküsst hat, obwohl er wollte, weil er gemerkt hat, dass ich nicht wollte.“ Das ist der Satz, mit dem Alexander Kochinkas Forschungsprojekt begann. Er ist Psychologe an der Uni Hannover und las den Satz in einem angekokelten Tagebuch, dass er beim Joggen am Waldrand fand. Wenn man Emotionen auf den Grund gehen will, haben Tagebücher haben zwei große Vorteile, sagt Kochinka. Zum einen seien sie „nicht reaktiv“, also nicht für jemanden geschrieben. „In einem Gespräch zum Beispiel besteht immer die Gefahr, dass eine Person etwas sagt, weil sie glaubt, dass man das hören will“ – bei Tagebüchern sei das nicht der Fall. Zum anderen sind sie „längsschnittlich“, zeigen also eine Entwicklung über die Zeit. Beides sind Eigenschaften, die für Kochinkas Forschungsfragen wichtig sind: Er will herausfinden, wie sich Emotionen entwickeln. Schließlich hat ein kleines Kind noch eine ganz andere Gefühlswelt als ein Jugendlicher oder Erwachsener. In rund 150 Jahren Emotionspsychologie haben sich jede Menge Theorien angesammelt, wie Emotionen entstehen können. Der Psychologe Richard Lazarus beispielsweise argumentiert, dass sie aus der Bewertung vorliegender Sachverhalte resultieren. Der Psychologe Robert Zajonc schlägt genau die umgekehrte Argumentation vor: Seiner Theorie nach entwickeln wir nicht bestimmte Emotionen aufgrund bestimmter Sachverhalte, sondern fühlen erst bestimmte Emotionen und suchen dann nach Ereignissen, die Grund dafür sein könnten. Genau das versteht Kochinka nicht: „Wie können das alles Theorien über das gleiche Phänomen sein? Die beschriebenen Gefühlskonstrukte sind ja immer die gleichen.“
Es geht ihm in seiner Forschung nicht um irgendwelche Emotionen, sondern um komplexe. „Die meisten Emotionen beziehen sich auf Objekte. Man ist neidisch auf jemanden wegen etwas. Aber man kann sich auch für ein Gefühl schämen: wenn man beispielsweise jemanden verachtet, ihn dann kennenlernt und merkt, dass man sich geirrt hat.“ Eifersucht sei ein ähnliches Beispiel für komplexe Gefühle: weil es über den Verdacht hinaus selbstquälerische Imagination braucht, um sich genau vorzustellen, was da gerade im Moment passieren könnte.
Allerdings hat der Mensch nicht von Anfang an das Vokabular, um seine Emotionen einzuordnen. „Kinder schreiben oft, dass sie etwas „toll“ oder „blöd“ fanden, über die Zeit wird das dann differenzierter“, beschreibt Kochinka die Entwicklung. Eine seiner Methoden besteht deshalb darin, den Tagebuch-Text nach der Häufigkeit bestimmter Wörter abzusuchen und über die Zeit zu vergleichen.
Jeder positivistische Naturwissenschaftler würde behaupten, dass Kochinkas Emotions- und Tagebuchforschung keine Wissenschaft sei, weil es sich rein objektiv und in kausalen Begründungen nicht fassen lässt. Kochinka hält dagegen: „Es gibt nur wenige allgemeine Gesetze in der Psychologie und deswegen keine kausalen Zusammenhänge. Wenn man die strenge positivistische Definition von Wissenschaft nimmt, dann könnte man viele Themen wie Erinnerungen oder Emotionen nicht behandeln – das fände ich ziemlich unbefriedigend.“ Alternativ könne man sich andere Erklärungsmodelle überlegen: in der Psychologie gibt es statt kausaler beispielsweise intentionale Erklärungen, die uns Phänomene besser verstehen lassen. Kochinka erläutert das immer mit folgendem Beispiel: „Stellen Sie sich vor, Ihre Freundin erzählt, dass sie herausgefunden hat, dass ihr Freund sie betrogen und sie ihn deshalb verlassen hat. Die kausale Erklärung der Freundin dafür müsste lauten: Sie hat ihn verlassen, weil das allgemeine Gesetz gilt, dass jeder, der betrogen wird, seinen Freund verlässt. Eine solche Begründung stellt uns nicht zufrieden. Wenn die Freundin aber erklärt, dass ihrem Freund seine Hobbys wichtiger als die Beziehung wurden und er sie dann auch noch betrogen hat – dann können wir ihre Entscheidung viel besser nachvollziehen.“
Kochinkas Forschungsinteresse beschränkt sich nicht allein auf die komplexen Emotionen. Er will auch das Phänomen Tagebuch verstehen. 32 Exemplare – von halb vollgeschriebenen bis zu einem 60-bändigen Tagebuch – hat Kochinka dazu bereits untersucht. Einige hat er aus dem Deutschen Tagebucharchiv, andere wurden ihm zugeschickt. „Ich will herausfinden, wie Tagebücher aussehen, nicht wie ich denke, dass sie sein könnten“, beschreibt er den kulturpsychologischen Ansatz seiner Arbeit, mit dem er verstehen will, warum Leute Tagebuch schreiben und woher sie die Regeln dafür kennen. Konkrete Antworten auf seine Forschungsfragen hat er noch nicht gefunden – aber er will weiter suchen.
Text: gianna-carina-gruen - Foto: Gerti G. /photocase.com