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"Es kommen nicht eine Million Engel zu uns"

Foto: Kay Nietfeld / dpa; Collage: Daniela Rudolf

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Ich halte es da gerne mit dem Satz einer Kollegin in der Flüchtlingshilfe. „Ach, weißt du“, hat sie mal gesagt, „wenn eine Million Menschen kommen, ist es doch klar, dass nicht eine Million Engel kommen.“ Damit sagt sie auch: Es ist klar, dass nicht eine Million Teufel kommen. Sondern, dass ein paar sehr, sehr gute und ein paar sehr, sehr schlechte Menschen kommen – und die allermeisten befinden sich irgendwo dazwischen. Sie sind (auch, wenn man sich mit diesem Wort ja immer sehr weit aus dem Fenster lehnt): normal. Stinknormale Menschen. Wie die meisten Menschen.  

Ich mag den Satz dieser Kollegin und ich bewundere immer wieder ihre Haltung, die dahintersteckt. Eine Haltung, die ich bei vielen, die in der Flüchtlingshilfe aktiv sind, wahrnehme. Man sagt ja gern, Helfer seien Idealisten. Und Idealismus ist sicher die Basis. Aber wenn ich in dem Ehrenamt, das ich seit Ende 2014 in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge mache, etwas gelernt habe, dann, dass man nur mit Idealismus auf die Dauer nicht weit kommt. Er muss kombiniert sein mit etwas, das in „Ach, weißt du, es kommen nicht eine Million Engel“ steckt: mit einem unerschütterlichen Pragmatismus. 

Das wird umso deutlicher, wenn man beobachtet, wie grade alle irgendwie durchdrehen. Die rechten Pöbler erfinden und verbreiten Horrormeldungen über Flüchtlinge, in denen sie sie als unmenschliche Monster darstellen. Auf der anderen Seite hat ein Helfer offenbar die Meldung erfunden, ein Flüchtling, der vor dem Berliner Lageso anstehen musste, sei gestorben. Sein Motiv ist noch nicht bekannt, aber es ist damit zu rechnen, dass der Mann auf die schlimmen Zustände dort aufmerksam machen wollte.

Alle Seiten haben derzeit irgendwelche starken Gefühle und Ängste und Sorgen und Wünsche, von denen einige (nicht alle!) ja auch verständlich und menschlich sind. Sie äußern sie laut und auf die unmöglichsten Arten, verstricken sich in Lagerkämpfe. Alle Seiten reagieren also: emotional. Aber mit Emotionalität ist gerade niemandem mehr geholfen, keinem Helfer, keinem Geflüchteten, und keinem, der als Bürger dieses Landes die Situation ja automatisch mitträgt.

Emotionalität ist das tiefe Luftholen, bevor man loslegt. Pragmatismus ist das gleichmäßige Atmen, das sich anschließt

Im Sommer, als alles anfing, da war die Emotionalität wichtig. Viele waren ergriffen und das hat dafür gesorgt, dass viele angepackt haben und dass die Stimmung insgesamt positiv war. Aber um das im nächsten Schritt auch durchzuhalten, um das ganze Paket aus Bürokratie, Integration, schönen Momenten und großen Enttäuschungen stemmen zu können, egal ob als Helfer oder Steuerzahler, muss man extrem sachlich bleiben. Sich freuen, wenn es was zum Freuen gibt. Sich ärgern, wenn es was zum Ärgern gibt. Und dann einfach weitermachen.

Vielleicht ist es so: Emotionalität ist wie das tiefe Luftholen, bevor man loslegt. Pragmatismus ist das ruhige und gleichmäßige Atmen, das sich daran anschließt, der Rhythmus, der sich einstellen muss. Die ständige Aufregung und Empörung, das Verbreiten von Falschmeldungen, der Lärm von allen Seiten, die ständige Emotionalität also, ist wie Schnappatmung. Schnappatmend hält keiner durch. Der muss dann erstmal in eine Papiertüte atmen, damit er weitermachen kann.

Was Pragmatismus für mich nicht bedeutet, ist die Haltung der Konservativen, die sich gerne als Pragmatiker und Realisten bezeichnen, aber eigentlich Pessimisten sind, mit ihrem ewigen „Wir müssen die Grenzen jetzt dichtmachen, hilft ja alles nix“. Ich glaube fest daran, dass man am ehesten zum Pragmatiker wird, wenn man da hingeht, wo die Menschen sind, über die alle dauernd sprechen. In Flüchtlingsheime, in Notunterkünfte, zu Veranstaltungen mit Geflüchteten. Wenn man mit ihnen umgeht und merkt, wie gern man manche hat und wie blöd man manche findet. Und wie gern man manche Helfer hat und wie blöd man manche findet. Weil es eben dort und mit diesen Menschen genauso ist, wie überall und immer, wo Menschen mit den verschiedensten Hintergründen aufeinander treffen: Mal denkt man „Oh mein Gott, was für ein wunderbarer Mensch!“ und mal „Was für ein Idiot!" – und meistens eben: „Aha, Menschen. Stimmt, so sahen die aus und so benehmen die sich.“ 

Mit dem Zusatz natürlich, dass diese Menschen oft extreme Schicksale haben. Aber mit ihnen darüber zu sprechen, hilft einem eben auch dabei, pragmatisch zu werden. Weil sehr viele von ihnen selbst die krassesten Pragmatiker sind. Immer wieder findet man, dass sie extrem mutig und tapfer und stark sind, weil sie diese unfassbar schweren Wege auf sich genommen haben. Aber wenn man mit jemanden darüber spricht, sagt er nicht, dass das mutig und tapfer und stark war. Sondern, dass es einen guten Grund gab, dort, wo er herkommt, nicht mehr zu bleiben. Dass es dort „fucked up“ war. Dass es also völlig logisch war, dort wegzugehen und Schutz und ein besseres Leben zu suchen. 

Ja, damit das funktionieren kann – die Aufnahme, die Integration, das friedliche Zusammenleben – muss viel getan werden und sich vieles ändern und verbessern. Zum Beispiel auch die Zustände vor dem und im Lageso. Aber wer sie mit zu viel Emotion anprangert, der spielt am Ende den Falschen in die Hände. Denn um im Lärm ruhig und effektiv arbeiten zu können, hilft nur: tief Luftholen. Und dann einfach: weiteratmen. Ein. Und aus. Und wieder ein. Und wieder aus.

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