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"Wenn es um Bedrohungsszenarien geht, zeigt man Männergruppen"

Foto: Angelika Warmuth/dpa

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Christina Rogers ist Migrations- und Medienwissenschaftlerin. An der TU-Dresden forscht sie zu Bildern von Migration in visuellen Medien und den neuen Grenztechnologien Europas. 

jetzt: Vor zwei Wochen gab es eine Meldung zum Tod eines 24-jährigen Flüchtlings vor dem Berliner Lageso. Die Erregung in den sozialen Netzwerken war gewaltig. Dann stellte sich heraus, dass es eine Falschmeldung war. Was macht so eine Meldung mit unseren Gefühlen?

Christina Rogers: Einzelfälle wühlen auf. Im Fall von Lageso kennen wir einen ganz bestimmten Bilderkanon: Große, anonyme Menschenansammlungen, die in langen Schlangen in der Kälte stehen. Wir alle wissen eigentlich, dass die Bedingungen dort schrecklich sind, und doch sind wir diese Bilder mittlerweile so gewohnt, dass es einen Einzelfall braucht, um wirklich noch aufzuregen. Der aktuelle Vorfall lenkt nun natürlich die Aufmerksamkeit auf das morbide Gerücht eines freiwilligen Helfers und lässt Unterstützer recht doof dastehen. Während der eigentliche Skandal doch das kontinuierliche bürokratische Versagen ist.

Ohne Einzelschicksal lassen uns menschenunwürdige Zustände mitten in Berlin kalt?

Jein. Bilder von anonymen Massen erwecken bei vielen Menschen eben gemischte Gefühle. Nicht alle interpretieren sie so, dass sie Solidarität empfinden. Vielen zeigen sie, wie überlastet der Staat ist. 

Wie wir Bilder wahrnehmen, ist also kontextabhängig?

Genau. Die Bildpolitik hat eine lange Tradition: Wenn es um Bedrohungsszenarien geht, zeigt man größtenteils Bilder von Männergruppen, single, schwarz. In der Berichterstattung über Syrien dominiert ein Opferbild, das oft durch eine Frau oder ein Kind verkörpert wird. Diese Stereotype finden wir überall. Man sollte genau hinschauen, für wen da wie Mitgefühl geweckt werden soll. Mein persönlicher Vorwurf: Diese Stereotype werden bewusst eingesetzt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen.

Inwiefern?

Diese Bilder lenken von den eigentlichen Problemen ab – vor allem von den selbstgemachten. Ein banales Beispiel: Wenn man sich mehr um sozialen Wohnungsbau gekümmert hätte, statt ihn zurückzufahren, müsste jetzt niemand vor dem Lageso frieren. Dann hätten wir jetzt andere Bilder. Statt aber Politik in den Fokus der Kamera zu rücken, sehen wir diese anonymen Gruppen in desolaten Zuständen. Hier wird nicht die Ursache des Problems gezeigt, sondern seine Folge gezielt zur Abschreckung benutzt. Diese Bilder sagen nur noch: Schaut her, es können nicht noch mehr kommen.  

Eine Meinung, die ja nicht gerade unpopulär ist momentan. 

Aber solche Aussagen gründen sich genau aus diesen Bildern der Massen, der Invasion, der Krise. Ein konstruiertes Szenario. Es verwandelt die Menschen in abstrakte Zahlen. Und es ist ein Zirkelschluss: Die Bilder werden als vermeintlicher Beleg für ein Gefühl herangezogen, das sie eigentlich erst erzeugt haben. Wenn wir so weit sind, ist es logisch, wenn in der Berichterstattung nur noch gefragt wird: Wie viele Menschen sind schon da? Wie viele kommen noch? Was wird das alles kosten? Wenn wir andere Bilder sehen würden, wäre die Stimmung in der Bevölkerung auch eine andere. Übrigens werden diese Bilder auch auf europäischer Ebene genutzt, um eine Politik der Abschreckung zu fahren und so zu tun, als wäre Europa „voll“.

Funktioniert das da?

Nein. Die Migrationsforschung hat ergeben, dass die Menschen trotzdem kommen und sie kommen schon seit Jahrzehnten.

Behaupten Sie deshalb, dass der Begriff „Festung Europa“ nicht passt? 

Ja. Unter Festung verstehe ich: Hat man einmal die Mauer überwunden, ist man drin. So ist es aber nicht.  Wir tun immer so, als wäre das Mittelmeer Europas einzige Mauer. Der Begriff unterschlägt aber, dass die Festung schon immer dynamisch war.

Ein Beispiel vielleicht?

Die neuen Erfassungstechnologien und Datensysteme: Die machen die Grenze zu einer unsichtbaren aber ständigen Bedrohung für jeden Mensch, der jemals erfasst wurde. So kann sich ständig und an jeder Stelle eine neue Mauer auftun, selbst wenn man längst angekommen ist. Man könnte sagen, was früher der Schlagbaum war, ist heute der Fingerabdruck der Menschen.

Wie meinen Sie das?

Grenztechnologien wie Eurodac, die europäische Datenbank für Fingerabdrücke, machen die Menschen zu Datenpaketen, die jederzeit aufgespürt und verortet werden können. Wer einmal seinen Fingerabdruck abgegeben oder Asyl beantragt hat, trägt die Grenze von nun mit sich herum. Kontrollen müssen nicht zwangsläufig an den Außengrenzen der sogenannten Festung Europa passieren. Jede Grenze, die überschritten wird, klebt ihnen an den Fingern. 

Welche Folgen hat das für die Betroffenen?

Das Asylsystem kennt keine Einzelfalllogik. Ein Beispiel: Zwei Brüder, der eine hat seinen Fingerabdruck in Italien gegeben, der andere hat es bis nach Deutschland geschafft. Jetzt ist der eine schwer krank, hat in Italien Anspruch auf Sozialleistungen wäre dort aber ganz allein und der andere könnte ihn hier in Deutschland pflegen. Kann er aber nicht, weil der andere bereits in Italien registriert ist und hier kein Anspruch auf Pflege erhoben werden kann. Das Soziale spielt hier keine Rolle mehr. Ich nenne das die „Verdatung“ der Geflüchteten. Das passt zu den nüchternen und anonymisierten Bildern der Massen, Müllberge und überfüllten Schlauchboote. 

Wie könnte man dieser Verdatung entgegenwirken?

Zum Beispiel muss man einfach einsehen, dass die Dublin Verordnung abgeschafft werden muss. Die Migranten müssen selbst entscheiden können, wo sie ankommen wollen und Familien sollten nachziehen können. In Bezug auf Bildregime könnte man genannte Bilder bewusst umgehen, um Abschreckungsszenarien nicht noch weiter zu befeuern. Wir kennen sie doch eh alle schon. Wenn man nach den Biografien einzelner Menschen fragt, ergeben sich plötzlich alternative Geschichten, die nichts mehr mit den Massenbildern der Überforderung zu tun haben. In der Auseinandersetzung mit den eigentlichen Lebensrealitäten von Geflüchteten sehe ich Potenzial für Solidarität.

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