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Gibt es bei Obdachlosen Neid auf die Flüchtlinge?
Wir saßen gerade beim Kaffee, ein paar ehrenamtliche Helfer und ich, als das Wort plötzlich fiel. So unverhofft, so merkwürdig deutlich dabei – wie jemand „Scheiße“ sagt, der in einen Nagel tritt –, und nun, da es einmal ausgesprochen war, stand es in seinen schmutzigen Schuhen mitten im Raum und alle betrachteten das Wort schweigend und voller Scham, weil sie es reingelassen hatten: „Mit diesem Vieh will ich nichts zu tun haben.“
Erst eine Woche war vergangen, seit ich beschlossen hatte, mit Obdachlosen zu arbeiten. Zunächst eine fixe Idee, um meine Zeit sinnvoll zu nutzen. Dann schnell ein Recherche-Projekt. Ich wollte wissen: Gibt es etwas wie Neid bei den Obdachlosen – jetzt, wo viele neue Menschen ins Land kommen? Wo Anfänge einer Neid-Debatte schon zu spüren sind, weil Leute sich fragen, ob sie wegen der Flüchtlinge jetzt keine Wohnung finden? Wie ist das bei denen, die eh schon nichts haben? Nimmt ihnen tatsächlich jemand etwas weg? Und mitten rein in diese Fragen jetzt eben dieser Satz vom Vieh, mit dem einer der Obdachlosen nichts zu tun haben will. Und zwar dann der eilige Widerspruch: „Das kannst Du doch nicht sagen, sowas.“ Und dann betretene Blicke. Aber der Satz stand trotzdem im Raum
Es gibt zwei Gruppen, die schweigen, wenn jemand etwas Fremdenfeindliches am Tisch sagt: Die, die den Konflikt scheuen, die feige sind, und die, die auch diese Meinung vertreten. Ich denke, an diesem Tag war das Verhältnis vielleicht fifty-fifty. Aber der Reihe nach.
In der Tagesstätte für Wohnungslose, „Leipziger Oase“, herrscht Vormittagsbetrieb. Das Klirren von Kaffeetassen und Geschirr. „Wie soll man sich schon fühlen“, sagt der wohnungslose Mann und guckt über seine dicken Brillengläser. „Ich habe nichts gegen Flüchtlinge.“
Die Aufmerksamkeit liegt bei denen, die neu in das Land kommen. Und nicht bei denen, die schon lange hier sind und Not leiden.
Der Leiter der diakonischen Tagesstätte hatte erzählt, dass natürlich auch Obdachlose, die gar kein Dach über dem Kopf haben, und Wohnungslose, die keine eigene Wohnung besitzen und woanders schlafen, die Nachrichten sehen. „Die sind ja nicht aus der Welt“, hatte Christoph Köst gemeint. „Natürlich kriegen die mit, was passiert, die sind ja nicht blöd.“
„… aber die müssen ja nur nicht alle hierher kommen. Denen kann man auch bei sich zu Hause helfen“, sagt der Mann mit der Brille.
„Da ist aber Krieg.“
Er überlegt eine Weile, aber nicht besonders lange und nimmt dann seine Brille ab. „Ja, aber uns hilft doch auch keiner, abgesehen von den Leuten in den Einrichtungen, die sich den Arsch aufreißen. Ganz ehrlich: Ich bin wirklich kein böser Mensch“, fügt er hinzu. „Aber das ist doch nicht in Ordnung, finde ich. Plötzlich ist so viel Geld da. Soll ich jetzt zufrieden sein?“
„Der Typ neben Dir ist Franzose. Der müsste auch weg.“
Der Mann blickt sich um und betrachtet seinen Sitznachbarn einen Tisch weiter, der in der Obdachlosen-Tagesstätte gerne Französisch spricht. Jedenfalls überwiegend. „Ach, der ist doch gar kein echter Franzose.“
„Doch, ich denke schon. Er kann nur auch Deutsch. Der müsste auch weg. Er gehört nicht hierher.“
„Der ist doch hier aufgewachsen, ich kenne ihn. Er ist ein netter Kerl.“
„Macht das denn einen Unterschied?“
„Ich finde schon. Der hat bestimmt Steuern gezahlt. Die Flüchtlinge zahlen gar nichts. Die kriegen alles geschenkt. Und wir zahlen dafür. Ich muss schließlich auch hart arbeiten, um über die Runden zu kommen.“
„Stütze?“
„Ja.“
„Sozialhilfe ist auch nur geschenktes Geld von Leuten, die dafür Steuern zahlen und früh aufstehen.“
Aber so einfach ist es natürlich nicht: Die, die sonst nichts haben, müssen am meisten teilen. Für sie sind die Abendnachrichten, die hier laufen, ein Stich ins Herz. Egal, wie man es dreht: Die Aufmerksamkeit der meisten liegt gerade bei denen, die neu in das Land kommen. Und – bisher jedenfalls – nicht so bei denen, die schon lange hier sind und auch hier Not leiden.
Die Geflüchteten sind in der Presse. Im Fernsehen. Überall ehrenamtliche Helfer, die Spenden sammeln und Familien bei sich aufnehmen. Wer nimmt einen alten Obdachlosen auf? Wie soll man sich fühlen, wenn alle Menschen plötzlich das Samariter-Syndrom kriegen, aber für dich, der du schon lange obdachlos bist oder keinen Job hast, ist nichts mehr da? Man könnte dir helfen, Interviews mit dir führen. Aber wer kettet sich für die Sorgen eines Obdachlosen an den Bundestagszaun oder buddelt Gräber in öffentliche Parks?
Oder sind das Gefühle, die an der Realität vorbeigehen.
„Die Obdachlosen und Armen haben gefühlt in diesem Land keine Lobby, bis auf die Wohlfahrtsverbände“, sagt Christoph Köst. „Wenn es da Frust unter Kollegen gibt: Mag so sein. Ich teile diese Einstellung nicht. Wir als Einrichtung für obdach- und wohnungslose Menschen stehen seit zwei Jahren viel besser da, was die Finanzierung angeht. Der Vorwurf, es werde nichts getan, ist damit doppelt falsch: Es arbeiten viele Menschen zumeist ehrenamtlich für die Armen. Und auch wir bekommen Gelder und die Stadt müht sich. Es gibt also eigentlich keinen Grund zu klagen. Eher im Gegenteil. Es wird besser.“
Auch sei es nicht so, dass die Flüchtlinge jemandem etwas wegnehmen: Die Flüchtlinge bekommen auch Geld, aber hochgerechnet haben wir auf die Anzahl der Leute gesehen, die bei der Stadt registriert sind, sogar recht viel Geld zur Verfügung.“
Die Leipziger Oase wird von Zuschüssen der Stadt und der Diakonie getragen. Rund zwei Millionen Euro pro Jahr lässt Leipzig sich seine Einrichtungen für Obdach- und Wohnungslose in den Vierteln der Stadt kosten. Zum Vergleich: Für Flüchtlinge sind es derzeit bis zu 32 Millionen im Jahr, die Leipzig vom Freistaat bekommt, der wiederum sein Geld vom Bund erhält. Allerdings stehen den etwa 5000 Flüchtlingen in der Stadt auch „nur“ 138 Wohnungslosen gegenüber. Experten glauben, die Dunkelziffer könne weit höher liegen – und dass es mehr Wohnungs- und Obdachlose in der Stadt gibt, weil diese zum Beispiel bei Freunden unterkommen. Verdeckte Wohnungslosigkeit nennt man das.
Der Mann am Tisch schiebt sein Panini-Heft rüber, deutet auf einen Spieler: „Ibrahimovic“, sagt er. „Mein Lieblingsspieler. Den hab ich noch nicht, der war in keinem Päckchen dabei. Die Bilder sind teuer, sag ich dir, die kann ich mir nicht oft leisten.“
„Du verdienst was dazu?“
„Klar, das tun doch fast alle.“
„Was kauft ihr davon?“
„Unterschiedlich. Manche kaufen Bier und Zigaretten. Essen. Trinken. Mal eine Packung Bilder. Ein bisschen von allem. Wie ganz normale Menschen auch.“
„Welche normalen Menschen meinst Du?“
„Na, die anderen. Die keine Sorgen haben wie wir. Obwohl: Jeder Mensch hat Sorgen, glaube ich. Nur vielleicht andere. Menschen machen sich Sorgen, wie sie über die nächsten Monate kommen. Wir sorgen uns manchmal, wie wir es über den nächsten Tag schaffen.“
Früher sei er selbst einer von denen gewesen, die man so gemeinhin vor Augen hat: verzottelt, zerzaust, auf der Parkbank. Aber das Draußenschlafen – Platte machen genannt – sei ihm zu gefährlich geworden. „Ich bin auch Flaschensammeln gegangen“, sagt der Mann. Für ihn: kein einträgliches Geschäft. „Flaschen muss man putzen, damit einem der ganze Siff nicht vor dem Supermarkt in den Beutel läuft. Ich habe nicht viele Beutel, das ist auch ziemlich ekelig. Ich habe die Flaschen immer ausgewaschen, manchmal hundert. Das war mir zu aufwendig. Jetzt verkaufe ich eben Panini-Bilder.“ Er leckt den Finger an und blättert in seinem Album, blickt über seine Sticker und durch die dicken Brillengläser wie ein Bibliothekar aus dem vorletzten Jahrhundert.
„Ich kaufe sie am Kiosk ein – und die seltenen verkaufe ich weiter.“
„Und, wie läuft das Geschäft?“
„Naja. Geht so. Es gibt schon gute Tage.“
„Würdest Du auch Ibrahimovic verkaufen?“
„Nein. Den natürlich nicht.“
Eine Weile blickt er noch nachdenklich vor sich hin. Sein Kaffee, der hier sechzig Cent kostet und ziemlich gut schmeckt, ist mittlerweile kalt. Ein neuer sei heute nicht mehr drin, sagt er.
Im Büro gegenüber sitzt ein Geflüchteter. „Sie können nicht zu uns“, sagt die Beraterin.
Die Leipziger Oase ist eine Insel, die alles bietet, was nötig ist, in einem Meer aus Beton. Es ist bereits Mittag, das Essen wird durch die Küchenzeile gereicht, Gulasch siedet in großen Töpfen.
Christoph Köst dreht seine Runde und blickt uns über die Schultern. Er leitet seine Mitarbeiter an – viele sind selbst ehemalige Wohnungslose, die hier Arbeit und Beschäftigung finden. Nachts schlafen diejenigen, die keine eigene Wohnung haben, entweder auf der Straße oder in den Übernachtungshäusern der Stadt. Tagsüber kommen sie zu Köst und seinem Team. Dort haben sie dann einen Raum für sich, sie haben Postfächer, so dass sie Briefe und Behördenschreiben an eine Adresse bekommen, die sie sonst nicht hätten; eine Waschmaschine, Duschen. Toiletten. Warmes Essen. „Es kommen immer mehr alte Menschen zu uns, die von ihrer Rente nicht leben können. Oder Arme aus den umliegenden Vierteln, die wir hier mitversorgen“, sagt der Leiter der Tagesstätte und verschränkt die Arme vor der Brust.
Im Büro gegenüber sitzt ein Geflüchteter. „Sie können nicht zu uns“, sagt die Beraterin. „Sie müssen in ihre Einrichtung gehen. Wir können ihnen hier nicht helfen.“ Eine Pause. Der Mann lächelt, weil er nichts versteht, aber hofft, ein Lächeln könne seine Chancen vielleicht verbessern. Aber das geht nicht. Das Procedere ist klar geregelt: Flüchtlinge müssen in ihre eigenen Einrichtungen, wo auch speziell geschulte Berater zur Verfügung stehen.
„Ärgert Sie das?“
„Ärgert mich was?“, fragt Köst.
„Dass die Flüchtlinge so viel Aufmerksamkeit kriegen und dass plötzlich Mittel da sind?“
„Nein“, sagt Köst vehement.
„Irgendwann wird es den Flüchtlingen, die bleiben, vielleicht genauso gehen wie den Armen und Wohnungslosen jetzt: Die Aufmerksamkeit in den Medien endet, die Zeltstädte im Zentrum werden abgebaut und an den Rand der Stadt verlegt, und die, die es nicht schaffen, sich zu integrieren, landen dann vielleicht bei uns.“
Pause.
„Das Problem sind nicht die Flüchtlinge. Das Problem ist zu wenig bezahlbarer Wohnraum, während die Stadt weiter wächst.“
Vor der Oase steht jetzt ein Mann. Zeitung unterm Arm. Er lacht. Ein paar Zähne fehlen. „Ich hab es gewusst!“, sagt er triumphierend. „Ich wusste es! Die da oben!“ Er deutet auf eine Süddeutsche Zeitung, die allerdings merkwürdig glatt gefaltet und ungelesen aussieht. Es ist nicht unüblich, dass der Schein nach Außen mehr zählt als alles andere. Auf dem Titel leuchtet: Panama Papers. „Hab's im Fernsehen gesehen, gestern“, sagt der Mann und schnorrt sich eine Kippe. „Und dann hab ich mir gleich diese Zeitung gekauft. Die da oben stopfen sich die Taschen voll, aber für uns bleibt nix!“
Die Umstehenden nicken oder schweigen. Zustimmung oder Konflikt scheuen. Tja. Das Wort Lügenpresse wird für heute jedenfalls vom Wort Panama abgelöst. „So soll se sein, die Presse“, sagt der Mann. „Gute Leute!“ Dann geht er rein und zeigt jemand anderem sein Exemplar.
„Ist das nicht auch teuer, so eine Zeitung?“, frage ich. Sandra Fröhlich, die hier die Wohnungslosen betreut, nickt und zieht an ihrer Zigarette. „Klar“, sagt sie. „Aber manchmal bekomme ich zu Ostern von denen einen Schokohasen geschenkt. Die sagen: Ich verzichte auf zwei Bier, wenn es das wert ist. Vielleicht ist es das. Wohnungslose sind genauso interessierte Menschen wie du und ich. Vielleicht war der Hase aber auch geklaut – oder die Zeitung. Will ich gar nicht so genau wissen.“
Sandra organisiert Themenabende für die Wohnungslosen. Nächste Woche: Marokko
Fremdenfeindlichkeit sei durchaus sehr typisch für die Szene der Obdach- und Wohnungslosen, sagt Fröhlich: „Die sind natürlich frustriert. Und das äußern sie auch. Es laufen einige, die ich betreue, montags bei Legida mit oder sympathisieren mit der AfD“, sagt die Leipzigerin. „Was soll ich machen: Sie dürfen ja eine Meinung haben. Unser Klientel hier ist sehr anfällig dafür: Sie leiden echte Not, sie fühlen sich abgehängt und verachtet. Sie haben keinen, der sich für sie stark macht – außer uns. Und es geht auch weniger um Flüchtlinge. Viele haben eher was gegen Ausländer an sich.“
Als Punk, sagt sie, versuche sie die Nerven zu behalten. „Es liegt daran, dass diese Leute so wenig mit Ausländern zu tun haben – und wenn, dann nur mit denen, die in den Nachrichten sind“, erklärt sie. „Ich sage dann immer: Leute, das sind ganz normale Kriminelle, die gibt es überall. Die wollen, dass wir es auf die Flüchtlinge schieben. Das kommt denen doch gerade recht.“
Sandra war selbst einige Monate wohnungslos. „Seit ich das kenne“, sagt sie, „bin ich viel toleranter geworden. Früher wäre ich auch an Obdachlosen vorbeigegangen und hätte gedacht, das sind doch eh alles Säufer.“ Jetzt organisiert sie Themenabende für die Wohnungslosen. Kommende Woche: Marokko. „Wir zeigen Bilder, laden Marokkaner ein. Und plötzlich sind alle interessiert: Wie sieht es da aus? Was essen die? Die haben in ihrem Leben einfach keine Berührung damit. Wir haben ihnen auch gezeigt, wo und wie Flüchtlinge wohnen. Und dass die nur 150 Euro kriegen und die meisten wieder wegmüssen. Da haben die richtig Mitleid. Jetzt spenden unsere Leute sogar für ein Kindergartenprojekt in Südamerika.“
Und natürlich ist da trotzdem Frust. Bei den ehrenamtlichen Helfer und bei den Obdachlosen. Und trotzdem kann ja auch nicht jede Ausrede gelten. „Wir haben doch überhaupt nichts gegen Flüchtlinge“, sagt Gabi Edler. Sie leitet seit 30 Jahren ein Projekt und verpflegt Kinder, die auf der Straße leben. „Aber manche haben eben auch schlechte Erfahrungen gemacht. Ich zum Beispiel auch“, sagt sie.
„Und dann ist man so wütend?“, frage ich.
Gabi guckt durch die Windschutzscheibe des Busses, in dem wir sitzen. Und die Flippers singen, dass schöne Mädchen Gabi heißen, als wollten sie ihren Beitrag leisten.
Gabis Verein lebt nicht von der Stadt. Er lebt von privaten Spenden. Mit Kindern, denke ich, ist es viel leichter als mit den Erwachsenen und Alten, Förderer zu finden. Spende, Spendencheck, Handshake, Bild in der Lokalzeitung. An der Wand hangen unzählige Schecks und Benefiz-Fotos. Sogar die Familie von First Lady Michelle Obama war schon da.
„Früher bin ich Straßenbahn gefahren“, sagt Gabi. „Und irgendwann hatte ich die Idee, mit einer Straßenbahn voller Geschenke durch Leipzig zu fahren, um sie an bedürftige Kinder zu verteilen. Und dann kamen so Idioten, die sahen jedenfalls wie Ausländer aus und wollten uns alle Geschenke klauen. Ich meine: Wer macht denn sowas? Das ist so eine Erfahrung, die sind einfach anders erzogen oder so. Ich weiß nicht. Ich mein das überhaupt nicht böse.“
„Aber“, frage ich, „würdest du, Gabi, oder irgendwer anders – nach 30 Jahren Kinderhilfe – deswegen ein muslimisches Kind, das vor deiner Tür steht und deine Hilfe braucht, abweisen?“ Wir fahren eine ganze Weile, der schwarze Bus schaukelt durch die Stadt. „Nein, natürlich nicht“, sagt Gabi irgendwann und klettert aus dem Bus, dessen Schiebetür krachend aufschwingt, und wir verteilen das Essen, das Gabi übrig hat und dann an die anderen Einrichtungen weiterreicht. „Menschen haben ja vielleicht auch Vorbehalten gegen Obdachlose. Aber man muss immer helfen.“ Das, sagt sie, sei das Allerwichtigste.