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Pia Lenz' Dokumentarfilm "Alles gut" über Flüchtlinge und Integration
Der achtjährige Djaner ist an diesem Herbstabend in Hamburg sehr einsam. Um ihn herum stehen mehrere Dutzend Kinder mit ihren Eltern, sie halten Laternen und sie singen „Hejo, guter, alter Mond“. Auch Djaner hat eine Laterne bekommen und versucht, mitzusingen. Aber er kann den Text nicht so gut, er ist erst vor wenigen Monaten aus Mazedonien nach Deutschland gekommen. Er wird immer leiser und dann ganz still. Wenn Pia Lenz einen Moment benennen soll, der ihr vom Dreh ihres Dokumentarfilms „Alles gut“ besonders in Erinnerung geblieben ist, dann ist es dieser. „Alle Kinder waren mit ihren Eltern da, aber Djaners Mutter konnte nicht kommen. Er hat sich dort, glaube ich, sehr, sehr alleine gefühlt“, sagt sie am Telefon. „Ich habe irgendwann die Kamera ausgemacht, um einfach mit ihm beim Umzug mitzulaufen. Und er hat meine Hand genommen.“
Die 30-jährige Journalistin und Filmemacherin Pia Lenz hat den Roma-Jungen Djaner und die elfjährige Syrerin Ghofran vom Sommer 2015 an ein Jahr lang mit der Kamera begleitet. Damals sind die beiden Kinder mit ihren Familien nach Deutschland gekommen: Djaners Mutter will ihren beiden Söhnen eine bessere Zukunft ermöglichen, fern vom gewalttätigen Vater und gesellschaftlicher Diskriminierung in Mazedonien. Ghofrans Vater Adel hingegen ist 2014 vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen, ein Jahr später können seine Frau, die drei Söhne und die Tochter endlich zu ihm nach Hamburg kommen. „Alles gut“ zeigt, wie die Kinder und ihre Familien versuchen, anzukommen. Und wie wahnsinnig schwer diese sogenannte Integration für alle Beteiligten ist. Der Film lief schon auf verschiedenen Festivals und wird ab 23. März in deutschen Kinos gezeigt, häufig mit einer anschließenden Diskussionsrunde (eine Übersicht über alle Termine gibt es auf der Homepage des Films).
Der Versuch der Familien, sich ein neues Zuhause aufzubauen, besteht zu großen Teilen aus Bürokratie und Geduld: Besuche auf dem Amt und bei Sozialarbeitern, warten in kahlen Räumen und sterilen Containerbauten. Djaner und Ghofran sind das Gegengewicht zu dieser Welt, die der Film bewusst in all ihrer schleppenden Langsamkeit zeigt. Darum hat Pia Lenz sich auch entschieden, die Kinder in den Fokus zu nehmen. „Bei ihnen ereignet sich alles viel schneller. Erwachsene sind durch das Strukturelle dazu verdammt, ziemlich lange isoliert zu sein, aber Kinder haben das Glück und gleichzeitig die Herausforderung, direkt ins kalte Wasser geworfen zu werden“, sagt sie. Denn auch geflüchtete Kinder sind schulpflichtig. Sobald es geht, besuchen sie den Regelunterricht oder eine Vorbereitungsklasse, in der sie Deutsch lernen, und kommen so sofort mit anderen Kindern, der Sprache und dem Alltag in Deutschland in Kontakt.
Ihre Protagonisten hat Pia zum einen ausgewählt, weil sie die Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Flüchtlinge aufbrechen wollte, die viele Menschen machen: Kriegsflüchtlinge aus Syrien werden zum Teil eher akzeptiert als die sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“, zum Beispiel aus den Balkanstaaten. Indem Pia in ihrem Film Menschen aus beiden „Gruppen“ als die Individuen zeigt, die sie sind, und ihre Geschichte erzählt, verschwinden diese Schubladen. Zum anderen fällte Pia ihre Entscheidung aus dem Bauch heraus: Djaner traf sie auf dem Spielplatz der Flüchtlingsunterkunft Hamburg Holmbrook, die sie als Schauplatz für ihren Film ausgesucht hatte. Er fiel ihr auf, weil er so offen auf sie zuging und unter den Kindern dort den Ton angab. Ghofran lernte sie erst kennen, als Adel seine Familie am Flughafen abholte und Pia den Moment mit der Kamera festhielt. Das Mädchen beeindruckte sie sofort mit ihrer gleichzeitig zurückhaltenden und bestimmten Art.
Pia hat den Kindern nicht viele Fragen gestellt, ihnen aber dafür oft lange ins Gesicht geschaut
Der Zuschauer merkt schnell, dass beide Kinder sehr starke, aber auch sehr unterschiedliche Persönlichkeiten sind. Ghofran kommt mit dem festen Willen in Deutschland an, sich nicht verbiegen zu lassen, eine Syrerin und Muslima zu bleiben. Am liebsten will sie so bald wie möglich zurück. Mitschüler sagen zu ihr: „Auch du wirst dich verändern“, aber sie hält dagegen. Zu beobachten, wie sie im Laufe ihres ersten Jahres in Deutschland ihren Platz findet, sich dabei natürlich verändert, aber trotzdem sie selbst bleibt, ist sehr bewegend. Djaner hingegen, der in seiner Grundschulklasse zunächst wohlwollend aufgenommen wird, hat Schwierigkeiten, Halt zu finden. Er ist zu unruhig und zu oft wütend.
Anfangs will Ghofran am liebsten zurück nach Syrien. Sie hat Heimweh.
Für Ghofran ist vieles in Deutschland fremd, zum Beispiel, dass ihre Mitschülerinnen sich schminken. Aber langsam findet sie ihren Platz, ohne sich selbst zu verlieren.
Djaner (l.) und sein Bruder Mahmud
Als Djaners Familie die Abschiebung droht, muss seine Mutter Alisa sich mit den beiden Söhnen verstecken.
Djaner geht in Hamburg in die zweite Klasse. In Mazedonien, erzählt er, wurde er in der Schule oft verhauen.
Djaners Lehrerin Christiane Jessel versucht, Djaner die Aufmerksamkeit zu geben, die er braucht, ohne die anderen Kinder zu vernachlässigen.
Der Film kommt Ghofran und Djaner sehr nah. Das liegt zum einen daran, dass Pia komplett alleine gedreht hat, ohne Filmteam und viel Equipment. Zum anderen aber auch daran, dass sie sich trotz dieser Nähe selbst zurückgenommen hat. Sie hat beobachtet und Momente festgehalten, die man sonst übersehen würde, weil die Welt drumherum einen zu sehr ablenkt. Pia hat den Kindern nicht viele Fragen gestellt, ihnen aber dafür oft lange ins Gesicht geschaut. Der Zuschauer kann in diesen Gesichtern eigentlich alles erkennen, was er wissen muss: Wenn Ghofran in der Schule abseits steht und zu den anderen Kindern rüber schielt, sieht man ein schüchternes Mädchen, das seine Freunde vermisst, eine trotzige Elfjährige, deren Pubertät einsetzt, und eine stolze junge Frau, die an ihren Idealen festhalten will. Und wenn Djaner in der ersten Szene des Films auf dem Spielplatz ein Mädchen schubst, sieht man, wie es in ihm kämpft. Dass er einfach nicht weiß, wie er sich verhalten soll, um sich gut zu fühlen. Vor allem diese Szenen machen „Alles gut“ so großartig: Der Film belehrt und erklärt nicht. Er macht uns einfach nur bewusst, dass es bei „Integration“ immer noch um Menschen geht, die erst einmal sie selbst sind und erst im zweiten Schritt Teil einer wie auch immer definierten Gesellschaft sein können. So wie jeder von uns.
„Alles gut“ ist wie eine Durchhalteparole, die die Geflüchteten sich selbst vorsagen
Während Pia ihren leisen Film drehte, war es um sie herum laut: Plötzlich gab es eine „Willkommenskultur“ und Ehrenamtliche, die sich überarbeiteten. Pegida demonstrierte, die AfD erstarkte. Die Deutschen fingen an, Flüchtlinge in „gut“ und „schlecht“ einzuteilen. Doch um den gesellschaftlichen Kontext bewusst zu machen, braucht „Alles gut“ keine Szenen von Demos, Begrüßungsapplaus oder politischen Talkshows. Die Kamera muss die Flüchtlingsunterkunft und die Schule gar nicht verlassen, weil sich all das auch dort, im Kleinen, spiegelt. Während Ghofrans Vater eine Wohnung sucht – und nicht findet, denn wer vermietet schon gerne an Flüchtlinge? –, bekommt Djaners Familie kein Aufenthaltsrecht, ihnen droht die Abschiebung und sie müssen untertauchen. Während es manchen Eltern von Djaners Mitschülern lieber wäre, der Junge wäre nicht mehr in der Klasse, setzen sich andere für ihn ein. Und in den Aussagen seiner Mitschüler hört man immer wieder ein Echo der Gespräche, die die Eltern daheim wohl über Flüchtlinge führen. Andererseits sind es eben auch diese Kinder, die mit einer freundlichen Sachlichkeit an die Sache herangehen, die man vielen Pegidisten wünscht. Die kleine Ida zum Beispiel findet Djaner „voll nett“. Und dann sagt sie: „Sogar wenn er nicht nett wär, dann müsste man ihn gut behandeln, dann wird der auch nett.“
Die Kinder glauben daran, dass alles gut wird. Mit diesem Wunsch spielt auch der Titel des Films, der auf den ersten Blick sehr simpel und auf den zweiten eine ziemliche Provokation ist. Man kann sich gut vorstellen, wie er Asylgegner aufschreien lässt, dass nur sozialromantische Gutmenschen behaupten könnten, alles sei in Ordnung, wo doch eigentlich die Überfremdung drohe. Aber der Film behauptet eben gar nicht, dass alles gut ist. Pia sind die Worte „Alles gut“ während ihre Drehs bloß immer wieder begegnet. „Es ist eine Floskel, eine Art ‚Wie geht's‘, die Geflüchtete, Ehrenamtliche und Sozialarbeiter sehr oft benutzen. Es war zum Beispiel auch das erste, was Ghofrans Vater Adel sagen konnte“, erzählt sie. „Und auch, wenn etwas schwierig war und ich die Familien gefragt habe, wie es läuft, haben sie immer gesagt ‚Alles gut, alles gut‘. Wie eine Durchhalteparole, die sie sich selbst vorsagen. Und die auch zeigt, wie sehr ihnen die Erwartungshaltung der Deutschen bewusst ist.“ Auf einem Festival kamen nach dem Screening Zuschauer zu Pia und sagten, sie würden den Titel als Aufforderung verstehen: „Alles gut“ als Ziel, auf das wir als Gesellschaft hinarbeiten. „Das fand ich eine schöne Interpretation“, sagt Pia. „Es hat etwas Aktivierendes.“
Dass Pia jetzt erst Mal ein paar Wochen mit ihrem Film in Deutschland unterwegs ist, um ihn zu zeigen und darüber zu sprechen, wird sicher auch einige Menschen aktivieren. Sie plant außerdem, „Alles gut“ in verschiedenen Sprachen untertiteln zu lassen. Englische Untertitel gibt es schon, mindestens Arabische sollen noch dazukommen. „Seit wir die Facebook-Seite zum Film haben, schreiben mir öfter Menschen, die selbst neu nach Deutschland gekommen sind“, sagt sie. „Und ich glaube, für sie kann das ein sehr guter Film sein, weil er ihnen zeigt: Ich bin nicht alleine, auch andere stehen vor diesen riesigen Herausforderungen, das Ankommen braucht bei allen viel Zeit.“