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Marathonglotzen oder wöchentliches Date?
Soll man aufhören, wenn es am schönsten ist? Bloß nicht, findet Juliane Frisse – und plädiert fürs Marathonglotzen statt künstlicher Verknappung.
Es gibt wenig an Menschen, das mir unheimlicher ist, als wenn jemand in der Lage ist, einen angebissenen Schokoriegel zurück in den Kühlschrank zu legen, um sich den Restriegel für später aufzubewahren.
Zugegeben: Maß halten war noch nie meine größte Stärke. Ich feiere lieber, bis die Sonne aufgeht, statt um halb zwei eine Party zu verlassen und am nächsten Morgen durch den Park zu traben und frisch gepressten O-Saft zu trinken. Wenn ich etwas wirklich lustig finde, kann ich stundenlang hysterisch kichern. Und wenn ich Sport mache, möchte ich danach durchgeschwitzt und völlig außer Atem sein. Ich finde Exzess geil. Genauso auch exzessive Askese oder exzessives Arbeiten. Aber dazwischen nur sehr wenig – und vor allem keine angebissenen Schokoriegel. Deshalb sehe ich auch Serien am liebsten staffelweise und nie Folge für Folge.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Wenn ich mir in einer sehr langen Nacht eine komplette Staffel "The Wire" reingezogen habe, dann war ich danach zwar müde und ausgelaugt. Das wäre ich zwar nach einem fesselnden Buch ebenfalls gewesen – nächtelang zu lesen ist allerdings trotzdem nicht so schlecht beleumundet. Wohl, weil es nicht an einem Bildschirm geschieht, denn das ist im Übermaß ja angeblich immer schon die Vorstufe zum gesellschaftlichen Problemfall – egal, ob man fernsieht oder zockt. Dabei glaube ich eigentlich, dass Marathonglotzen vielen Serien eher gerecht wird. Vielleicht nicht unbedingt einer Sitcom, die auf den schnellen Konsum angelegt ist, aber doch den großen, epischen Erzählungen, derentwegen Serien in den Feuilletons als Kulturgut gefeiert werden. Denn wenn ich staffelweise schaue, dann tauche ich wirklich in den Kosmos einer Serie ein, bin, um im Slang eines Fernsehkindes zu sprechen, mitten drin statt nur dabei, ob es die „Projects“ von Baltimore sind oder ein Crystal-Meth-Labor in Albuquerque.
Aber auch die Serien, die etwas leichter daherkommen, sehe ich lieber am Stück. Als die erste Staffel von „Girls“ in den USA lief, erzählten viele, wie toll die Serie sei, dass sie mir bestimmt gefiele und ich sie unbedingt sofort gucken solle. Ich schaute mir daraufhin einen Trailer an, befand, dass die vielen wahrscheinlich Recht hatten – und wartete trotzdem lieber, bis alle Folgen verfügbar waren. Ich finde fast nichts unerträglicher als einen Cliffhanger, nach dem ich tatsächlich eine Woche ausharren soll, bis ich die Auflösung erfahre. (Auch Geduld zählt wohl nicht zu meinen herausragenden Fähigkeiten.)
Aber warum sollte ich mich denn gedulden? Mich einmal pro Woche, womöglich auch noch zu einer festen Uhrzeit, vor den Fernseher (oder den Laptop) zu setzen und dann exakt eine Folge anzusehen, erscheint mir seltsam anachronistisch in einer Welt, in der doch theoretisch alles immer verfügbar ist. Warum sollte ich genau dann etwas konsumieren, wenn irgendwelche Programmplaner befinden, dass es der richtige Zeitpunkt sei? Und warum sollte ich mich unnötig mit Cliffhangern quälen, wenn ich ebenso direkt zur nächsten Folge greifen und den Ausgang des Konflikts erfahren kann? Darauf zu verzichten ist für mich ähnlich absurd, wie ohne Internet und Warmwasser zu leben. Klar, ginge natürlich, aber wenn man nicht muss, wozu?
Warum das Diktat des Fernsehprogramms gar nicht so schlecht sein muss, erfährst du auf der nächsten Seite.
Das Diktat des Fernsehprogramms kann auch Vorteile haben. Kathrin Hollmer plädiert für ein wöchentliches Date mit der neuen Lieblingsserie.
Zugegeben, wenn mir eine Serie gefällt, dann schaue ich auch mal vier, sechs, acht Folgen am Stück an. Einen verregneten und verschnupften Samstag verbringe ich mit Vorliebe mit einer kompletten Staffel „Friends“. Natürlich finde ich es praktisch, eine Serie genau dann sehen zu können, wenn ich gerade Lust - und auch Zeit habe, aus diesem Grund (und noch ein paar anderen, die nicht hierhergehören) schalte ich meinen Fernseher meistens nur einmal in der Woche oder so an.
Trotzdem will ich mich endlich mal wieder dem Diktat des Fernsehprogramms unterwerfen, zumindest für die paar Wochen, in denen sonntagabends die erste Staffel von „Homeland“ läuft. Ich habe bis jetzt noch keine Folge gesehen und werde sie weder streamen noch mir die DVD kaufen. Nein, jeden Sonntagabend eine Folge soll es sein. Weil die Serie angeblich richtig gut ist, und ich, so abgedroschen es klingt, jede Folge einzeln genießen will.
Das kann, je nachdem wie spannend die Serie ist, Folter sein, und natürlich ist das eine künstliche Verknappung. Wie bei einer Handtasche, die nur deshalb für das Vierfache ihres Werts verkauft wird, weil es eine limitierte Edition ist. Ein künstliches Hinauszögern, denn ich könnte ja weiterkucken. Aber dann würde ich mit Sicherheit gleich alle durchschauen und wäre, je nachdem wie gut die Serie wirklich ist, nach zwei bis sechs Tagen damit durch. Ich mag es nämlich auch, den Cliffhanger zu umgehen und noch während der Abspannmusik die nächste Folge anzuklicken. Ich kenne mich: Das würde ich garantiert tun. Und dann bereuen. Wenn nämlich die Staffel zu Ende ist, muss ich noch länger auf die nächste warten. Wenn ich mir mit den Folgen Zeit lasse, muss ich nicht ganz so lange warten, und ich habe, wieder schrecklich abgedroschen, länger etwas davon. Das Fernseh-Diktat meint es also grundsätzlich gut mit uns.
Außerdem kann es auch etwas Kommunikatives haben, Serien und Filme anzuschauen. Man kann sich wunderbar darüber unterhalten kann, was so passiert ist, was spannend war, wer besonders gut gespielt hat und wer nicht. Wenn jeder gerade eine andere Folge aus einer ganz anderen Staffel streamt, funktioniert das nicht, zumindest nicht ohne zu fragen: In welcher Staffel war das doch gleich? Was ist da noch mal passiert?
Ich stelle mir vor, das wird ein bisschen wie mit dem „Tatort“. Der kommt auch (unter anderem) sonntagabends und beschert am Montag allen ein Gesprächsthema. Nur für den „Tatort“ fühle ich mich noch zu jung.
Text: juliane-frisse - Foto: kallejipp/photocase.com