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Ein Fall für Zwei: Ist Nachhilfe Luxus oder Laster?

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Besorgs mir: Warum es super ist, wenn’s andere tun In meiner Klasse gab es zwei Gattungen von Mathe-Schülern: Die eine Gattung fand Mathe spannend, verdient mittlerweile zwanzigmal so viel Geld wie ich und bestand aus ungefähr einem Schüler. Der Rest der Klasse fand Mathe langweilig, schwierig und nutzlos. Diese neunundzwanzig Schüler konnten wiederum in zwei Gruppen aufgeteilt werden: Teil eins hatte Nachhilfe, Teil zwei nicht. Teil eins war deshalb privilegiert und konnte in der Mathestunde Briefchen schreiben und Gegenstände auf die Mädchen werfen, denn: Sie hatte die Gewissheit, nachmittags alle Versäumnisse hübsch aufbereitet durch den Nachhilfelehrer ins faule Köpfchen gestopft zu bekommen. Teil zwei war meine Gruppe. Wir waren, jedenfalls kurz vor Schulaufgaben und Stegreifaufgaben gezwungen, dem Lehrer zuzuhören. Wir wussten ja, dass wir auf uns gestellt waren. Nachmittags saßen wir verzweifelt über unseren Schulbüchern, verbrachten Stunde um Stunde mit Textaufgaben und hatten am nächsten Tag doch wieder nur falsche Ergebnisse. Die Nachhilfeschüler hingegen verbrachten dreißig Minuten mit ihrem Nachhilfelehrer, schüttelten in der Klasse lässig bis auf die achte Kommastelle richtige Ergebnisse aus dem Ärmel, und schrieben wieder Briefchen. Schon in der Unterstufe begann ich zu ahnen, dass es sich lohnt, Luxus zu kaufen. Meine Eltern hatten aber kein Geld und waren zudem der Meinung, dass jemand mit ihren Genen seine Mathehausaufgaben schon irgendwie hinkriegen müsste. Heute lassen sich vermehrt Menschen ihre Probleme von Dritten lösen: Der Paartherapeut korrigiert die sexualtechnische Fehlstellung in der Beziehung, der bärtige Mann zieht die Winterreifen auf und Lukas aus der 7b wird zur Nachhilfe geschickt, anstatt ihm in sein Kinderzimmer einzusperren und abzuwarten bis es ihm gelingt, seine Normalparabelschablone richtig auf das Papier aufzulegen. Man könnte für die Learning-by-Doing-Methode argumentieren und sagen: "Mensch, Lukas, das schaffst du schon alleine. Bei der nächsten Schulaufgabe sitzt auch kein Nachhilfelehrer neben dir." Ich aber finde: "Hey, Lukas, das ist doch super. Bezahle irgendjemanden dafür, dass er dir die schlimmsten Probleme abnimmt. Es ist so viel angenehmer, sich von einem liebenswert, stetig verzweifelnden Mathematikstudenten die Schönheiten der Kurvendiskussion eintrichtern zu lassen, als selbst lernen." Das Zum-Lernen-Gebracht-Werden verhält sich wie das Hörbuch zum Lesebuch – man kann sich ein bisschen hinlümmeln, ein bisschen zuhören und bekommt auf wundersame Weise doch genug mit, um irgendwie in Mathe durchzukommen. Jetzt, wo ich groß bin, habe ich endlich Gelegenheit, andere dafür zu entlohnen, dass sie mir helfen. Ich habe keine Lust, meine Zeit mit doofen Excel-Tabellen und Honoraren, Sozialversicherungsbeiträgen und Gleitzone-Tarifen zu verbringen, deshalb gehe ich zum Steuerberater und bezahle ihm ein Honorar. Dafür wird mir eine hässliche Aufgabe abgenommen und ich kann in der gewonnen Zeit sinnvolle, interessante und spaßige Dinge tun, zum Beispiel meine Fingernägel betrachten. Und wer jetzt ruft, "unzulässige Vereinfachung, Erschleichung, Schieberei und Mogelei!", der soll mir mal von seiner letzten Kartoffelernte erzählen.


Mach's Dir selber! Ich war 14 und sie hieß Ute. Dass ich sie kennenlernen durfte, hatte ich einem Mathe-Fünfer im Zwischenzeugnis zu verdanken. Ute war ein halbes Jahr meine Nachhilfelehrerin. Sie hatte schiefe Zähne und trug immer einen buntgefleckten Wickelrock. Ich glaube, sie hatte auch einen leichten Sprachfehler. Dass ich Ute trotzdem toll fand, lag daran, dass sie 1. mir das Gefühl gab, intelligent zu sein und 2., weil sie ein Jahr älter war als ich. Es gibt nichts Schöneres als Mädchen, die einem das vermitteln können. Jeden Donnerstagnachmittag zwischen 14 und 15 Uhr zeichneten Ute und ich Hypotenusen (und ich glaube, sie sagte „Hypotenufe“), legten Katheden und Ankatheden und berechneten Seitenverhältnisse. Und immer wieder lobte Ute mich, sagte mir „Toll, Du kannst das“ und „Du musst Dich doch nur ein bisschen anstrengen.“ Dafür bekam sie von meiner Mutter zehn Mark in der Stunde. Drei Monate später war aus der Fünf eine Drei geworden und im gegenseitigen Einverständnis beendeten wir das Ausbildungsverhältnis. Unsere Beziehung war von vornherein eine befristete Angelegenheit. Weil Hilfe immer etwas Vorübergehendes ist. Wird die Hilfe zum Dauerzustand, schafft sie Abhängigkeit. Hätte dieses Ausbildungsverhältnis länger angehalten, hätte ich es in Mathematik wohl auf eine Zwei gebracht und mein Leben sähe heute so aus: Ein quirliger Chaka-Mensch würde sich mit meinen sporadischen Komplett-Durchhängern beschäftigen („Ist doch alles gar nicht so langweilig, das macht doch Spaß!“) Eine dunkelhaarige, dunkelhaarige Psychologin mit tiefen Augen würde mir jede unkomplizierte Affären zu einer latenten Bindungsangst auslegen („Wovor sind Sie diesmal geflüchtet?“). Gegen Stimmungsschwankungen und Unkonzentriertheit bekäme ich Ritalin und Antidepressiva von einem spröden Psychiater mit weißem Bart („Dafür müssen Sie sich nicht schämen, das nimmt heute jeder.“). In der restlichen Freizeit würde mich eine muskulöse Fitnesstrainerin mit einem Hintern aus Granit ran nehmen („Streng Dich gefälligst mehr an!“). Außerdem hätte ich noch eine Steuerberaterin, eine Sekretärin, einen Paartherapeut, einen Finanzberater, eine Putzfrau sowieso, und kein Leben mehr. Ich wäre ein hilfloses Bündel an Männchen, angewiesen auf Horden von Beratern, Coaches, Trainern und Optimierern. Alleine nicht lebensfähig. Ein Kind ohne Selbstvertrauen. Eines Tages würde mich meine dunkelhaarige Psychologin mit tiefen Augen anblicken und fragen: „Vielleicht sollten Sie ihr Leben wieder mehr selbst in die Hand nehmen. Fangen Sie mit einfachen Tätigkeiten an, Kartoffeln ernten zum Beispiel.“ philipp-mattheis

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