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100 Tage Große Koalition - gut oder schlecht?
Die Große Koalition ist gar nicht so schlecht , weil: 1. Politik ist wieder langweilig. Und das ist gut so. Sie soll verschwinden hinter Stellwänden und an Sitzungstische. Sie soll in Gremien und Ausschüssen stattfinden und hinter Türen, die nicht verschlossen sind, deren Inhalt sich aber auch nicht als blödsinniger Brei stets von alleine über die Nation ergießt. Die entsetzlich detaillierte Präsenz der rot-grünen Verkrampfungen aus dem Jahr 2005 will man nie wieder erfahren, dank der sich das Volk zuletzt wie körperlich gebeutelt fühlte, von der täglich offenbarten Dummheit aller Beteiligten. Ausrutscher und Absonderlichkeiten, die in allen Situationen und von allen Seiten besprochen werden müssen – damit verschont uns die neue Regierung bis jetzt. Die sprichwörtliche Nicht-Ästhetik von Merkel und Müntefering trägt dazu bei, dass die Politik im schönen Gespräch wieder den niedrigen Schmuddelplatz zugewiesen bekommt, den sie seit je her verdient. „Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied / Ein leidig Lied!", damit soll Goethe doch bitte einmal wieder ein bisschen recht behalten. 2. Politik ist wieder schnell. Was war das für ein Gezerre und Gekrieche in den letzten Jahren. Jeder Fußbreit Reform wurde torpediert, jede vorsichtige Spekulation beschwatzt, von jedem, der ein Maul am Kopf trug. An den eigenen Reihen, am grünen Koalitionspartner, an den Gewerkschaften, an der starken Opposition mit Bundesratmehrheit und an der pilstrinkenden Parteibasis mussten die Teller vorbeigetragen werden und jeder nahm sich die Happen, die ihm passten und am Ende war der Vorschlag kalt und zerschnitten. Jetzt: Rente mit 67 - von Müntefering in drei Tagen durchgeboxt. Kürzungen für junge Arbeitslose – nach fünf Tagen hatte die Koalition das Gesetz verabschiedet. Die Opposition verstummt wohltuend im Selbstmitleid. Und unter Merkels ruhig wallenden Röcken findet sich für das von ihr geforderte „Durchregieren“ offenbar tatsächlich ein gutes Klima. Es darf nämlich heute auch mal regiert werden, ohne dass jeder vorher sein „Okay“ geben muss. Volk und Wirtschaft bekommen damit das Gefühl einer handlungsfähigen Führung und finden darin vielleicht endlich mal wieder Zuversicht, Selbstbewusstsein und Vorbild. 3. Politik ist menschlicher. Keiner mochte so recht auf Merkel wetten, weil ihr kein Genie und kein Führungsgewicht inne wohnt. Und es kommt einem bis heute vor, als schaute man bei einer Folge von „Frauentausch“ zu, in der eine evangelische Religionslehrerin zum Jux ins Kanzleramt gesteckt wurde. So eine ist aber mit ihren Versprechern, ihrer biederen Trotzigkeit und ihrer launischen Fröhlichkeit viel volksnäher und echter, als der anzügliche Herrenreiter Schröder mit seinem intellektzerfurchten Außenminister. Zwar fehlt nun Glanz und Gloria dieser beiden, aber dafür hat man jetzt eine Kanzlerin, die ehrlich traurige Sätze in die Kameras sagt wie, „Rügen ist doch die schönste deutsche Insel.“ Jenseits aller Inhalte - es ist wichtig, dass die Hochpolitik wieder verstanden wird. Dass hier in einer klaren Sprache gesprochen wird und nicht überheblich geschwätzt. In ihrer ruhigen und beherrschten Diktion wird Merkel komplexe und unpopulärere Entscheidungen gut vertreten können, wie sie zum Beispiel angesichts der kolossalen Haushaltssanierung 2007 notwendig werden. Weil sie unperfekt ist, kann sie vielleicht gerade noch jene sechs bis acht Millionen unperfekten Menschen erreichen, über deren arbeitslose Köpfe hinweg, die aussichtslose (und teure) Hartz-IV-Reform gebrochen wurde. 4. Politik ist endlich leise. Was keiner erwartet hätte, ist in diesen ersten hundert Tagen doch halbwegs geglückt: Koalitionsruhe, Fraktionsruhe und selbst die CSU hält die Klappe. Sogar ein Pinscher wie Pofalla schafft es inzwischen, seinen Widerwillen gegen den Koalitionspartner einigermaßen gemäßigt zu chiffrieren und Stoibers bußfertiges Schweigen hält hoffentlich noch lange an. Eine Art Anständigkeit der Willigen herrscht in den Berliner Fluren und das in einer Zeit, in der ein Premium-Zankapfel namens Koalitionsvertrag erarbeitet werden musste. Das lässt darauf hoffen, dass vielleicht auch in den nächsten zwei Jahren, bevor der Wahlkampf alle niederen Instinkte ans Licht bringt, eine Politik der Kompromisse und Verständigung dominiert. max-scharnigg
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die Große Koalition ist zufrieden mit sich – ich nicht 1. Weil Angela Merkel gesagt hat: Ich möchte Deutschland dienen. Das ist schön, aber ehrlich gesagt: das ist der Job eines Politikers und einer Kanzlerin sowieso. Aber wie will sie dienen? Wohin soll die Dienerei führen? Wo sind die Ideen? In welcher Gesellschaft will Frau Merkel leben? In ihrer Antrittsrede sprach sie zwar von einer Kultur der Freiheit und davon, mehr Freiheit zu wagen. Aber wie diese Kultur der Freiheit aussehen soll, ob sie sich nur darauf beschränkt, das man Leistungen, die der Staat nicht mehr übernehmen kann oder will, selber zahlen muss, oder ob sich da vielleicht doch mehr dahinter verbirgt, darauf habe ich immer noch keine Antwort. 2. Weil Angela Merkel heute erklärt hat, der Großen Koalition sei es gelungen, schwierige Sachverhalte relativ geräusch- und konfliktlos zu lösen. Da frage ich mich: Welche schwierigen Sachverhalte sind denn bisher gelöst worden? Außer ein paar öffentlichkeitswirksamen Auslandsbesuchen ist nicht viel geschehen. Wen wundert’s, Frau Merkel hat ja eine Politik der kleinen Schritte angekündigt. Und überhaupt: Warum ist es eigentlich gut, wenn Sachverhalte geräusch- und konfliktlos gelöst werden? Ich dachte bisher immer, öffentliche Auseinandersetzungen, Diskussion und – ja – auch Streit sind wichtig, ja sogar essentiell für eine Demokratie. „Friede, Freude, Reformstillstand“ haben die Grünen die Regierungsbilanz zusammengefasst. Volltreffer. 3. Weil die Föderalismusreform zwar durchgegangen ist, aber ohne dass die Finanzen zwischen Bund und Ländern neu geregelt wurden und mit einer weiter Stärkung des Bildungsföderalismus, den der UN-Gesandte gerade ausdrücklich kritisiert hat. 4. Weil die Rente mit 67 zwar beschlossen wurde, aber wenn es keine Arbeitsplätze gibt, wer soll dann so lange arbeiten? Überhaupt der Arbeitsmarkt – da hat man von der Großen Koalition keinen Mucks gehört, dabei wurden gerade wieder über fünf Millionen Arbeitslose gemeldet. Nur davon reden, dass man in Zeiten des Aufschwungs lebe, reicht eben nicht. 5. Weil Frau Merkel ansonsten mit ihrer Partei lieber erst mal über ein neues CDU-Grundsatzprogramm diskutiert. Aber was ist mit den großen, zugegebenermaßen schwierigen Reformthemen Gesundheit, Arbeitsmarkt, Steuern, Bildung, Familie. Die Fraktionschefs Volker Kauder und Peter Struck haben heute einmal mehr gezeigt, dass es bei Gesundheit noch nicht mal den Ansatz einer Idee gibt. Das System müsse erst mal stabilisiert werden, dann könne man über eine "große Lösung" diskutieren. Heißt: sie haben keinen Plan. So ist es überall: Unternehmenssteuerreform – kein Plan, Arbeitsmarkt – kein Plan, Haushaltdefizitbeseitigung – auf nächstes Jahr verschoben, Kinderbetreuung, Elterngeld, Kindergeld – keiner blickt mehr durch, was bereits beschlossen oder verwässert wurde oder noch diskutiert wird. 6. Weil Rotgrün die erste Regierung war, die erkannt hat, dass Kultur ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft ist und deshalb das Amt des Kulturstaatsminister eingeführt hat und diesen Posten immer mit angesehenen Menschen aus dem Kulturbereich besetzt hat. Jetzt haben wir auf dieser Position einen Parteisoldaten. Und plötzlich höre ich nur noch Rückbesinnung auf eigene Werte und Traditionen und dass die Kultur da eine wichtige Rolle spielen muss. Leitkultur und kein Ende in Sicht. 7. Weil Horst Seehofer Minister für Ernährung, Landwirtschaft, und Verbraucher ist und der die, wie er es sagt, „Diskriminierung“ der konventionellen Landwirtschaft gegenüber den Ökos beenden will. Also wieder nur ein Minister der Bauernfunktionäre und kein Verbraucherschützer. Die nächsten Gammelfleisch-Skandale sind vorprogrammiert. Außerdem: seit Monaten hört man nichts anderes als Vogelgrippe und wie groß die Gefahr einer Pandemie ist und wenn sie dann da ist, ist doch keiner vorbereitet. Da hat Herr Seehofer wohl geschlafen. Fotos: dpa