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Rückkehr des Hermannkuchen
Er begegnete mir vor gut einer Woche auf einem Küchentisch in Saarbrücken, in schicker Packpapiertüte und selbstverständlich bio-zertifiziert: Hermann, der etwas in Vergessenheit geratene Sauerteig.
Zu Hochzeiten des Hermanns, in den Achtziger- und Neunzigerjahren, war man verzückt und stolz über jeden Kuchenteig, der einem in Alufolie gewickelt vertrauensvoll in die Hand gelegt wurde. Das Hermann-Prinzip funktioniert nämlich ähnlich wie ein Kettenbrief: Wer ein Stück Teig geschenkt bekommt, züchtet daraus vier weitere Teigstücke und verschenkt diese an würdige Mitmenschen. Der Hermann galt daher insgeheim als wichtiger Messwert auf der Beliebtheitsskala.
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Man päppelte seinen Hermann also sorgsam mit Mehl, Milch und Zucker. Rührte ihn mit der gleichen Liebe, mit der man seiner Katze Streicheleinheiten gab. Hielt ihn konstant auf Kühlschranktemperatur. Und vervielfältige pflichtbewusst den Hermann-Brief, die offizielle Gebrauchsanweisung für den empfindsamen Kuchenteig. Handschriftlich natürlich, denn Haushalte mit Kopiergerät gab es in etwa so häufig wie Glutenunverträglichkeit.
Der zehnte Tag bedeutete stets einen großen Einschnitt im Leben des Hermann-Besitzers. Nun musste er nicht nur seinen prächtig gewachsenen Teig in vier Portionen teilen und eine davon in den Ofen schieben. Er musste sich auch Gedanken um den Verbleib der drei Nachkömmlinge machen. Wem traute man eine derartige Verantwortung zu? Und fast entscheidender: Wer war bisher von der Hermann-Invasion verschont geblieben?
Denn Hermann, dessen Entstehungsgeschichte mindestens in die Siebzigerjahre zurück reicht und weitgehend unerforscht ist, war damals überall. Er gehörte immer wieder zum Inhalt eines Schulranzens, wie die auf dem Pausenhof gewonnen und verteidigten Gogos, das glibberige Slimy und die hüpfende Regenbogenspirale.
So ungeklärt wie seine Herkunft, ist auch das Verschwinden des Hermanns. Schnell hat man hysterische Zeitgenossen im Verdacht, die bei der Erinnerung an Hermann laut „Igitt, da waren doch bestimmt Armhaare, vergorene Milch und Nagelreste im Teig!“, schreien. Letztendlich ist aber wahrscheinlich unsere kindliche Aufmerksamkeitsspanne schuld. Oder wie immer die Eltern, die Hermann-Reste sauer werden und im Klo verschwinden ließen.
Dass er gerade jetzt wiederkommt, ist indes sehr stimmig. Im Grunde ist der Hermannteig schließlich das perfekte Haustier unserer Generation. Mit seinem Besitz geht man keinerlei langfristige Verpflichtungen ein. Er lässt sich wunderbar teilen (Stichwort: Sharing Economy). Und wer die entsprechende Milch zu Hause hat, der bekommt Hermann sogar problemlos vegan und laktosefrei hin.
Hermann und ich, das war damals Liebe auf den ersten Blick. Trotzdem habe ich bestimmt ein Jahrzehnt lang nicht mehr an ihn gedacht. Ich möchte daran glauben, dass Hermann mich gefunden hat. In einer Zeit, in der ich von Hamburg nach Berlin nach München ziehe, ist er mein treuer Begleiter, ohne Transportkosten und Haustierklausel. Nächste Woche, wenn mein neuer Mitbewohner Geburtstag feiert, wird Hermann auf die Probe gestellt. Falls er den Test besteht, habe ich drei Portionen im Alter von wenigen Stunden abzugeben – natürlich nur in liebevolle Hände!