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Warum Vegetarierin Marissa Landrigan wieder Fleisch isst
Mit Anfang 20 sieht Marissa Landrigan in der Uni zum ersten Mal Aufnahmen aus einem Massen-Mastbetrieb. Geschockt von den Bildern und voller Ideale beschließt sie, sofort Vegetarierin zu werden. Doch mit der Zeit bekommt sie auch an dieser Lebensweise Zweifel. In ihrem Buch „Fleisch Essen für Vegetarier“ geht sie ihnen auf den Grund und konfrontiert sich selbst mit der harten Realität ihres Essens – auch dem vegetarischen.
jetzt: Du kommst aus einer italienischen Familie, in der Hackbällchen und Bolognese heilig waren, mit dem Studium wurdest du radikale Vegetarismus-Aktivistin. Sieben Jahre später hast du dein erstes Hühnchen selbst zerlegt. War Vegetarismus für dich nur eine rebellische Phase?
Marissa Landrigan: Technisch gesehen war es das, aber ich habe in dieser Zeit sehr viel über bewusstes Essen gelernt, was bis heute anhält. Obwohl ich heute wieder Fleisch esse, ist es nicht der Mittelpunkt meiner Mahlzeiten. Als radikale Vegetarierin habe ich nur schwarz-weiß gedacht: Fleisch war schlecht, Gemüse gut. Aber so einfach ist es nicht. In Wahrheit habe ich lange Zeit verdrängt, was in den ganzen Ersatzprodukten eigentlich drin ist oder wo das Gemüse herkommt und wie da die Produktionsbedingungen aussehen.
Wie denn?
Nehmen wir Südkalifornien als Beispiel: Der Großteil der US-amerikanischen Früchte und des Gemüses kommt von dort, weshalb man es auch relativ billig da kaufen kann. Als ich dorthin gezogen bin, habe ich mich anfangs sehr darüber gefreut. Dann habe ich aber mitbekommen, unter welchen Bedingungen Migranten dort auf den Feldern schuften, oft ohne Versicherung, in der prallen Hitze und für sehr wenig Einkommen. Das war damals der Preis für meine ausgewogene, vegetarische Ernährung.
„Sobald du in einer kapitalistischen Gesellschaft etwas kaufst, trägst du zum Leid der anderen bei“
Im Buch ärgerst du dich immer wieder, dass dein bisheriger Lifestyle nicht fair, gesund oder ökologisch genug ist. Gibt es die richtige Ernährung überhaupt, wenn das ganze System der Nahrungsmittelindustrie auf Ungerechtigkeit aufbaut?
Essen bedeutet Nehmen. Es gibt keinen Weg zu konsumieren, ohne etwas zu nehmen oder einzuschränken: das Leben eines Tieres, die Löhne der Arbeiter oder die Früchte der Erde. Die perfekte Lebensart gibt es nicht. Sobald du in einer kapitalistischen Gesellschaft etwas kaufst, trägst du zum Leid der anderen bei. Das anzuerkennen, ist der erste Schritt. Wir können aber den Schaden dabei minimieren.
Warum hat die Suche nach ethisch vertretbarer Ernährung bei dir persönlich so heftige Identitätskrisen verursacht?
Das hat viel mit meiner Familie zu tun, wo Essen extrem wichtig war. Es war unsere Quelle der Verbundenheit. Essen bedeutete was. Als ich plötzlich Vegetarierin wurde, habe ich mich willentlich aus dieser Gemeinschaft herauskatapultiert. Der Kampf mit meiner Ernährung war sicher auch auf vielen anderen Ebenen ein Kampf um Unabhängigkeit auf der Suche nach mir selbst. Als Aktivistin musste ich mir immer wieder die Frage stellen: Kann ich diese ethisch perfekte Person überhaupt sein, die ich so gerne wäre? Damit habe ich mich selbst überfordert. Essen ist eine Projektionsfläche, ein Mikrokosmos, geworden, wo ich diese Identitätsfragen verhandelt habe.
Wie kam es, dass du wieder Fleisch gegessen hast?
Ich habe angefangen, die Dinge ein bisschen weniger schwarz-weiß zu sehen. Ich habe anerkannt, dass dazwischen eine riesige Grauzone liegt, in der so viele Menschen jeden Tag versuchen, ihr Bestes zu tun, im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Meine Restriktionen haben mich von meiner Familie getrennt und viele Freundschaften verhindert, die hätten entstehen können. Ich habe immer nur nach den Differenzen, statt nach Gemeinsamkeiten gesucht. Der weltbeste Veganer fährt vielleicht trotzdem ein Auto. Man kann sich einfach nicht an allen Fronten gleichzeitig engagieren. Wir sollten das anerkennen, statt darin zu wetteifern, wer am ethisch korrektesten lebt.
Und nicht jeder kann sich das leisten, das ist ja auch oft ein Argument.
Im momentanen System sind ökologische Lebensmittel wirklich sehr viel teurer. Gesundes Essen kostet aber auch Zeit. Es ist ein Privileg, diese Zeit und das Geld für gutes Essen zu haben. Auch das ist mir erst bewusst geworden, als ich meine Uni-Blase verlassen habe und nach Washington gezogen bin, wo viele Leute nicht so privilegiert waren wie ich.
Als Vegetarierin hast du die Arbeitsbedingungen derer, die deine Fleischersatzprodukte herstellen, lange verdrängt. Ist es leichter, mit Tieren als mit Menschen Mitleid zu haben?
Ich glaube tatsächlich, dass viele denken, dass Tiere sich im Gegensatz zu Menschen ihre Situation nicht aussuchen. Dabei ist Wahlfreiheit auf den Plantagen in Südkalifornien sicher auch nicht der Grund, dass Menschen zu Billiglöhnen und ohne Versicherung arbeiten.
Gleich zu Beginn des Buches schaust du nach jahrelangem Vegetarismus bei der Tötung eines Stiers zu. Muss man sowas aushalten können, wenn man Fleisch isst?
Bis zu meinem ersten Jahr auf der Uni hatte ich keine Farm gesehen. Als Vorstadtkind wusste ich nicht, wie Essen produziert wird oder wo es herkommt. Und die Lebensmittelindustrie arbeitet daran, dass man das nicht sieht. Viele Amerikaner essen täglich Steak und wissen nicht, welcher Teil des Tiers das ist. Sich anzuschauen, wo das herkommt, heißt, die Produktionsbedingungen anzuerkennen und dazu Position zu beziehen. Das Gleiche gilt für Gemüse oder Sojaprodukte. Wir sollten einfach ehrlich zu uns selbst sein, was wir konsumieren.
„Ich sage nicht, dass Vegetarismus falsch ist, sondern nur, dass es nicht automatisch der beste Weg ist“
Tierrechtler würden argumentieren, dass es kein ethisch korrektes Schlachten gibt.
Das stimmt, aber mit den meisten Veganern und Vegetariern habe ich dann doch gemeinsam, dass wir mit unserem Konsum das Leid, das wir verursachen, irgendwie eindämmen wollen. Ich sage nicht, dass Vegetarismus falsch ist, sondern nur, dass es nicht automatisch der beste Weg ist und deshalb alles andere falsch sein muss.
Als junge Aktivistin wolltest du auch alles vermeiden, was stereotyp-weiblich war. Deshalb hast du mit 26 immer noch lieber aus Dosen gegessen, statt zu kochen. Wie denkst du heute über Kochen und Feminismus?
Meine Vegetarier-Ideologie hat mir einiges verbaut. Damals empfand ich das Kochen als eine Pflicht und noch dazu als etwas, was ich nicht gut konnte und nicht mochte. Ich hatte Angst, so zu werden wie meine Mutter oder Schwestern, bei denen sich alles ums Essen dreht. Heute glaube ich, dass kochen durchaus feministisch sein kann, wenn man sich aktiv dazu entscheidet.
Du hast gerade selbst eine Tochter bekommen: Wird es zu Hause typisch italienische Küche mit Hackbällchen geben?
Mein Kind soll selber entscheiden, wie es sich ernähren will. Ich will vor allem, dass Kochen eine positiv besetze Aktivität wird, weil ich sehr lange brauchte, meine Freude daran zu finden. Und klar, gerade die Nudelproduktion war ein Highlight meiner Kindheit, das will ich ihr auf jeden Fall beibringen! Meine Tochter soll einfach nicht die gleiche Krise durchmachen müssen wie ich damals.