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Mama und Papa sind auch Kinder

Illustration: Lucia Götz

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Ich telefoniere gerne mit meiner Oma. Sie ist sehr alt, aber unsterblich, darum werde ich sie noch viele Jahre lang regelmäßig anrufen können, aber das nur am Rande. Meine Oma ist lustig und lieb, sie sagt mir immer, wie gern sie mich hat, und erzählt Geschichten von früher. Viele davon erzählt sie mehrmals und auch die Schlüsse, die sie daraus zieht, sind oft die gleichen. Ein Satz, der bei unseren Gesprächen hin und wieder fällt, ist: „Manchmal kann ich gar nicht glauben, dass meine Jungs schon so alte Männer sind. Für mich bleiben sie für immer Kinder.“ In diesen Momenten wird mir immer bewusst, dass meine Oma nicht nur meine Oma ist. Sondern auch die Mutter meines Vaters. Und mein Vater ein erwachsener Sohn.

Als Kind wächst man mit verschiedenen Rollen auf: Man ist gleichzeitig Sohn oder Tochter der eigenen Eltern, Enkelkind der Großeltern, Schwester oder Bruder der Geschwister, man ist Cousine oder Cousin, Nichte oder Neffe. In jeder Rolle ist man ein bisschen anders, jede hat Vor- und Nachteile. Während man sich da so hindurch spielt, sieht man alle anderen in der Familie hauptsächlich in einer Rolle: die Schwester ist für einen nur Schwester und nicht auch noch Tochter der eigenen Eltern. Der Cousin ist nur Cousin und nicht auch noch Sohn der Tante. Und Mama und Papa sind einfach nur Eltern. Es ist immer ein ganz erstaunlicher Moment, in dem einen bewusst wird, dass auch alle anderen Familienmitglieder verschiedene Rollen haben. Aber am erstaunlichsten ist es, zu erkennen: Mama und Papa sind auch Kinder.

Klar, irgendwie weiß man das natürlich. Als ich selbst noch klein war, habe ich immer wieder über die Geschichte gelacht, die meine Oma so gerne erzählte und in der mein Vater mittags mit Bauchschmerzen nach Hause kam, weil er auf dem Heimweg von der Schule zu viel Sauerampfer gegessen hatte. Oder meinem Vater gelauscht, wenn er bei Autofahrten im Dunkeln davon erzählte, wie die Jungsbanden seiner Kindheit gegeneinander gekämpft haben. 

Mir war da schon bewusst, dass er mal ein kleiner Junge gewesen ist. Ein Sohn eben. Aber die Vorstellung war gleichzeitig abgekoppelt von dem für mich schon immer erwachsenen Mann, den ich „Papa“ nannte. Es war eher so, als hätte es mal diesen kleinen Jungen gegeben, der dann irgendwann durch meinen Vater ersetzt wurde. Und der kleine Junge sah vor meinem inneren Auge eher aus wie eine Figur aus einem Kinderbuch der Fünfziger, ein süßer Fratz mit kurzen Hosen und Kniestrümpfen. Immerhin waren die Geschichten, die ich über ihn hörte, ja auch klassische Lausbuben-Geschichten, vermutlich romantisiert, ausgeschmückt, über die Jahre zur Perfektion gereift. Sogar die Geschichten von meinem Vater als junger Mann waren immer noch Geschichten von einem anderen Mann. Denn seine Rolle als Vater war für mich ja immer so eindeutig, dass ich Erzählungen erst ab dem Moment wirklich mit ihm in Verbindung bringen konnte, in dem sie uns Kinder einschlossen. 

Je älter ich werde, desto besser kann ich mir das alles vorstellen. Desto klarer wird mir, dass meine Eltern natürlich auch Kinder sind, die ein bestimmtes, eigenes Verhältnis zu Mutter und Vater haben. Aber meine Oma macht mir mit ihrem Satz über die „alten Männer“ immer etwas bewusst, was für mich bis heute seltsam ist: Ja, Mama und Papa waren mal Kinder, so wie auch meine Geschwister und ich mal Kinder waren – aber heute sind sie die erwachsenen Kinder ihrer Eltern. Wie meine Geschwister und ich. Wir haben gleichzeitig die gleiche Rolle. Das gab es vorher noch nie.

Zwischen Eltern und Großeltern gibt es ein komplexes, mir unbekanntes Beziehungsgeflecht aus Liebe und Konflikten

Was mich dann zu einem nächsten Gedankenschritt führt, der endgültig für Knoten in meinen Gehirnwindungen sorgt: Ich denke an die Gefühle, die ich als erwachsenes Kind meinen Eltern gegenüber habe. Ich denke an die typischen Eltern-Kind-Sorgen und -Diskussionen, an die guten und schlechten Emotionen, an das Abnabeln und trotzdem Kontakt halten und so weiter – und versuche dann, all das auf die Beziehungen meiner Eltern zu ihren Eltern zu übertragen. Und damit ja auch auf die Beziehungen meiner Eltern zu meinen Großeltern. Die für mich eigentlich immer als unabhängige Entitäten existiert haben. Eltern hier, Großeltern da. Aber zwischen diesen beiden gibt es eben ein komplexes, mir unbekanntes Beziehungsgeflecht aus Liebe und Konflikten, Stolz und Enttäuschungen. Das verwirrt mich immer wieder. Und es gibt mir das Gefühl, eigentlich gar nicht so besonders viel über diese Menschen zu wissen. Weil sie noch diese anderen Rollen haben, die  andauernd von der einen großen Rolle, die sie für mich haben, überlagert wird. 

Wenn man mal ein bisschen hineinblickt, in dieses Beziehungsgeflecht, dann lässt das diese Menschen, die einem eigentlich so nah sind, manchmal in einem ganz anderes Licht dastehen. Da erfährt man dann vielleicht, dass der eigene Opa, den man immer nur als  niedlich-lieben Scherzkeks kennengelernt hat, manchmal gar nicht so umgänglich war. Oder von Streits und Versöhnungen, die sich lange nach den Lausbuben-Geschichten abgespielt haben. Und fühlt sich den eigenen Eltern am Ende gleichzeitig weniger nah (weil man so viel über sie nicht weißt) und näher (weil sie ja das Gleiche sind wie man selbst: erwachsene Kinder).

Der Satz meiner Oma, der all diese Gedanken anstößt, hilft mir allerdings auch dabei, am Ende wieder alles zurecht zu rücken und den gewohnten, vertrauten Platz in der Familie einzunehmen. Denn so, wie die Söhne meiner Oma für sie für immer Kinder bleiben, bleibe auch ich immer Kind. Und meine Eltern bleiben darum immer meine Eltern. Und Oma bleibt Oma (und zwar für immer, weil unsterblich). 

*Die Autorin dieses Textes möchte anonym bleiben – vor allem, damit ihr Vater anonym bleiben kann und nicht ab sofort dauernd mit der Sauerampfer-Geschichte aufgezogen wird.

Was wir sonst noch über unsere Eltern gelernt haben:

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