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Elternkolumne: Der Renteneintritt kehrt das familiäre Machtgefüge um

Illustration: Johannes Englmann

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Unser Garten war eigentlich nie besonders gut in Schuss. Der Rasen wurde erst gemäht, wenn sich kleine Pfade im Gras bildeten, die Obstbäume quälten im Herbst recht undefinierbare Früchte hervor und keiner wusste so richtig, wovon sich die Fische im Teich ernährten. Insgesamt also eine eher raue Schönheit. Bis ich vor ein paar Monaten wieder mal zum Heimatbesuch kam und erschreckende Beschaulichkeit vorfand: Zierrosen, akurat geschnittene Hecken, ein Gewächshaus (!). Und durch zwei vorbildlich gepflegte Stachelbeersträucher lächelt mich, leicht verlegen, mein Vater an. Gießkanne in der Hand, Gleitsichtbrille umgehängt – ein waschechter Rentner. Mit einer unsichtbaren kleinen Faust schlug mir die Zeit in die Magengrube. Wie konnte es soweit kommen?

Denn es ist doch so: Sein ganzes Leben lang kennt man die Eltern nur als arbeitende Menschen. Und so sehr man sich vielleicht manchmal von ihnen distanzieren will – irgendwie bewundert man sie immer ein bisschen dafür. Für das Spezialistentum, die Zielgerichtetheit, die Verantwortung, die gesellschaftliche Relevanz. Man lernt von Anfang an, dass der Beruf der Inbegriff von Erwachsensein ist. Die Existenzberechtigung. Und dann, ohne Vorwarnung: Gartenpflege.

Bestimmt fühlt sich der Renteneintritt für beide Seiten erst mal komisch an. Was den Neu-Rentner selbst angeht, kann ich zwar nur spekulieren, aber wahrscheinlich fühlt sich der Ruhestand an, als sei mit ihm ein unwiderrufliches Urteil verkündet: „Alle mal kurz herhören! Dieser Mensch ist ab jetzt alt!“ Und damit muss man bestimmt erst mal klarkommen. Nicht nur, weil man merkt, wie hartnäckig einem die eigene Vergänglichkeit an den Hacken klebt, sondern auch, weil man möglicherweise befürchtet, in den Augen der Kinder jetzt ein anderer Mensch zu sein. Ein hutzliges Wesen, das nur noch dazu gut ist, ab und zu kryptische Weisheiten vor sich hinzumurmeln.

Plötzlich fällt der Vorhang vor dem Theaterstück „Das Arbeitsleben eines Erwachsenen“

Diese Sorge ist natürlich unbegründet (hutzlige Wesen werden sie erst fünf bis sieben Jahre später). Trotzdem gibt es da auch bei uns Kindern ein Moment der Befremdung. Das liegt nicht nur daran, dass wir die Eltern anders sehen, sondern welche Schlüsse wir durch sie auf uns selbst ziehen. Wir hören beim Anblick des plötzlichen Rentners nämlich eine andere Durchsage: „Schichtwechsel!“

Auch für uns gibt es kein Zurück mehr. Wir haben bisher mit großen Augen zugeschaut, was die Eltern so alles Wichtiges machen und selbst schon angefangen mit tapsigen Nachahmungsversuchen. Immer mit dem Wissen allerdings, dass es da noch eine höhere Instanz gibt, die uns als Fixpunkt dient, die Sinnhaftigkeit vorlebt.

Und dann fällt plötzlich der Vorhang vor dem Theaterstück „Das Arbeitsleben eines Erwachsenen“ – und im Publikum kommt Verwirrung auf. Wo blieb die Pointe? Was war die Aussage? Wo ist die ganze Kraft geblieben, die sie in ihre Arbeit gesteckt haben? Haben sich die Eltern am Ende etwa die ganze Zeit über einfach nur zusammengerissen, um uns die Illusion zu vermitteln, dass die ganze Mühe – Arbeit, Kompromisse, Anpassung – es wert ist, weil sie auf ein höheres Ziel hinausläuft? Am Ende stehen sie da, meistens ohne die Welt verändert zu haben. Die wenigsten haben eine inhaltlich erfüllende Berufung gehabt, sondern sich ihr Leben lang mehr oder weniger aufgerafft, irgendetwas zu machen. Damit sie jetzt nichts mehr machen müssen. Und andere etwas an ihrer Stelle machen müssen. Und das sind wir. Wir müssen auf die Bühne.

Das familieninterne Weltgefüge wird umgestürzt und neugeordnet

Und von dort aus verändert sich die Perspektive radikal. Wie so oft bei radikalen Wechseln durch eine formal banale Frage: "Und, was hast du jetzt so vor?"

Mit dieser Frage aus unserem Mund wird gleich mal das gesamte familieninterne Weltgefüge umgestürzt und neugeordnet. Es ist schließlich die Textzeile, die man in ähnlichen Situationen unzählige Male von den Eltern gehört hat – nach dem Abi, dem Studium, der Weltreise, der Ausbildung. Und noch während man sie ausspricht, spürt man, wie unnatürlich sie erstmal klingt. Aber so verlockend es auch ist, so zu tun, als ob alles beim Alten wäre – man fühlt sich irgendwie verpflichtet, jetzt Verantwortung zu übernehmen. Sicherzugehen, dass sich da keine Leere auftut, wo vorher Beschäftigung war. Und Bedeutung. Der Ruhestand birgt schließlich auch viele Gefahren. Bilder von einsamen Parkbänken, stumpfsinnigem ARD-Programm und schleichender Depression schweben da etwa im Raum.

Dabei ist er eigentlich ja etwas sehr Wünschenswertes. Und verschiedene Umfragen zum Thema zeigen, dass der mit Abstand größte Teil der Menschen über 60 ziemlich lebensfroh ist. Warum auch nicht – man hat Zeit, endlich jeden Blödsinn zu machen, der einem so einfällt, und dazu noch in dem beruhigenden Wissen, seinen Teil schon geleistet zu haben.

Wahrscheinlich erklärt sich diese Diskrepanz so: Der neue Zustand tritt meistens sehr abrupt ein. Statt die Tätigkeit nach und nach zu reduzieren, gibt es im durchorganisierten Sozialstaat einfach einen administrativen Einschnitt, der sich unnatürlich anfühlt. Gestern achtbarer Familienernährer, heute harmloser Rentner. Man spürt die Verlegenheit der Eltern. Als ob ihnen ein Malheur passiert wäre. Und man will ihnen deshalb vermitteln, dass man sie immer noch respektiert, loyal ist, dass solche formellen Albernheiten wie Rente reine Formsache sind und niemals etwas über sie als Individuen aussagen könnten.

Und das ist dann wohl auch der beste Weg, den Bruch sanfter ausfallen zu lassen: Wenn beide Seiten sich quasi darauf einigen, die Eltern vorerst weiterhin die Sippenoberhäupter zu sehen, dann kann eine langsame, schonende Übergabe des Erwachsenenstatus beginnen.

Insofern ist der holprige Übergang in die Rente vielleicht auch eine kurze, umgekehrte Pubertät – der jugendliche Rebell fordert mehr Macht, der Rentner muss lernen, sie abzugeben. Und im Idealfall stellt er früher oder später fest, dass es sich ohne sie eigentlich unbeschwerter leben lässt. Dass er weder uns noch sich selbst weiter was vorspielen muss, sondern sich in der Theaterumkleide entspannt abschminken und sich am vorzüglichen Backstage-Fingerfood-Buffet bedienen kann.

Spätestens wenn man mit einem lachenden und einem weinenden Auge zuschaut, wie das potenzielle Erbe sich in Kreuzfahrten, High-Tech-Rasenmäher und Schwedisch-Sprachkurse auflöst, kann man davon ausgehen, dass die alten Herrschaften aus dem Gröbsten raus sind.

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