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Man wird wie die Eltern
Wir sind jetzt erwachsen – irgendwie. Aber immer noch Kinder. Die unserer Eltern. Und beim Erwachsenwerden und Erwachsensein ergeben sich ganz neue Probleme, aber auch ganz neue schöne Momente in der Eltern-Kind-Beziehung. Diesen Problemen und Phänomenen widmen wir ab sofort eine Kolumne – unsere neue Eltern-Kolumne.
Schon wieder kann sie sich nicht entscheiden. Tippelt zwischen den Tischen hin und her. Berührt die Lehne eines Stuhls wie zum Test. Kehrt dann doch wieder um. Die anderen Gäste schauen schon. „Mama“, sage ich, „wenn wir uns nicht bald irgendwo hinsetzen, denken die Kellner, wir sind zum Klauen hier.“ Mit ihrem bösen Blick habe ich gerechnet. Aber nicht mit diesem Konter: „Du gibst zu viel auf die Meinung der Leute. Genau wie dein Vater.“
Als Mutter weiß sie eben, wo sie mich packen muss. Die Ähnlichkeiten zum Vater, zumal die unvorteilhaften, sind meine Achillesfersen. Ach was, eher so Achillesoberschenkel. Und seit einiger Zeit entdecke ich davon immer mehr.
Kurzer Austausch per SMS mit meiner älteren Schwester: Ihr ist das Problem wohlbekannt. Sie kann sich in Alltagssituationen nie entscheiden, braucht immer ewig um, sagen wir mal: einen Tisch im Restaurant auszusuchen. Ganz wie die Mama. „Damit musst du jetzt klarkommen“, schreibt die Schwester, „ging mir vor ein paar Jahren genau so. Das gehört zum Erwachsenwerden ;-).“
Warum erwischen uns diese Momente frühestens mit Mitte 20, eher Ende 20? Wahrscheinlich, weil man vorher zu sehr mit der Menschwerdung beschäftigt ist, und zwar Mensch im Sinne von: möglichst anders als die Alten. Man rebelliert, weit über die so genannte Pubertät hinaus. Dann schließt man, halb befreit, halb resigniert, Frieden mit den Eltern. Man wird sein eigener Held und sieht die Eltern nicht mehr als Tyrannen oder wandelnde Peinlichkeiten, sondern als ganz normale Menschen. Und dann, wenn man sich gerade entspannt hat und mit dem Vater kumpelhaft wandern gegangen und mit der Mutter endlich nach Lissabon geflogen ist, weil man ja jetzt auf Augenhöhe ist und so – wenn man also auf dieser Augenhöhe genau hinschaut, sieht man: Ich bin gar nicht so sehr ich. Ich bin so wie die.
Bei Kumpels freut man sich. Wenigstens einer in dieser kalten Welt, denkt man, der so komisch ist wie ich. Bei Eltern fröstelt man. Weil die zuerst da waren. Und weil damit die Hierarchie so klar ist: Ich bin wie die. Nicht andersherum. Man hat die Eigenschaften unfreiwillig geerbt. Nur anders als die hässliche Vase wird man sie nicht mehr los. Man ist Empfänger. Passiv.
Und: Man kann es, wenn man es bemerkt, nur noch zugeben und hinnehmen. Um dagegen noch aufzubegehren, ist es dann zu spät. Jetzt hat man den Charaktersalat. Die Sturheit des Vaters, die Harmoniesucht der Mutter. Ihren Hang zu grellen Farben. Seine morgendliche Melancholie. Aber auch die Stärken: Ihre Geduld oder seinen Gerechtigkeitssinn. Das ist schön. Aber auch wieder schrecklich.
Daran zerplatzt schließlich einmal mehr die Illusion der Individualität. Wer bin ich denn, wenn ich am Ende doch nur die Summe der Erbstücke und der Rebellion dagegen bin?
Wenn ich die ersten zehn Jahre meines Lebens unter dem Einfluss zweier Menschen stand, gegen die ich die nächsten zehn Jahre aufbegehrt habe, um dann, nach nur ein paar Jahren echter Abnabelung von ihnen, doch am Ende viel mehr wie sie zu sein als ich dachte und wollte – was kann ich dann? Wo bleibt der freie Wille, wenn ich am Ende doch nur will, was sie wollten – oder eben das Gegenteil? Bin ich der Hase in dem Spiel, und die Eltern sind der Igel – egal wie schnell ich laufe, sie sind immer schon da?
Noch eine Metapher (mein Vater mag Metaphern): „Kinder sind ein von der Sehne gelassener Pfeil.“ Das schrieb der Philosoph Khalil Gibran in einem Büchlein, das ich zum Abitur geschenkt bekam – von meinem Vater. Aber der Spruch stimmt nicht. Kinder sind ein Pfeil aus dem gleichen Holz wie der Bogen, der zwar laut zischend losfliegt. Sich dann aber Transformerartig in einen Bumerang verwandelt, zurückkommt und selber zum Bogen wird.
So schief wie dieses Bild ist auch die Auseinandersetzung mit den Eigenschaften, die man geerbt hat. Weil man kein guter Analyst des eigenen Selbst ist. Die härtesten, weil präzisesten Urteile kommen von nahen Mitmenschen. „Jetzt hast du genau so besserwisserisch doziert wie dein Vater.“ „Diese penetrante Neugierde kenne ich sonst nur von deiner Mutter.“ Beziehungen sind schon an solchen Charakterisierungen zerbrochen. Weil sie so zutreffend sind. Und so unfair.
Denn man kann ja nichts dafür. Und deshalb will man es nicht hören. Weil man sich dann ohnmächtig fühlt. Man will, dafür hat man schließlich so lange gekämpft: ein eigenständiges Wesen sein. Und besonders vom Partner so wahrgenommen werden.
Dass man ihm oder ihr die Eltern überhaupt vorgestellt hat, geschah nur unter dem unausgesprochenen Vertrag, dass alles, was dort passiert, nicht gegen einen verwendet werden darf.
Denn was man von den Eltern geerbt hat, lässt sich weder abstreiten noch ablegen. Es ist sehr privat, fast intim. Jeder hat eine Eltern-Ähnlichkeit, die er bei Tischgesprächen zum Besten gibt. Beispielsweise die Fähigkeit, bei Tischgesprächen gut auszusehen. Und zwanzig andere Ähnlichkeiten, die zu den bestgehüteten Geheimnissen des Geheimdienstes meiner Seele zählen. Der Partner als Verbündeter darf sie sehen, analysieren, darüber schmunzeln. Aber niemals gegen mich in Stellung bringen. Diese charakterliche Nabelschnur, die uns auf ewig mit den Eltern verbindet, ist nicht nur untrennbar. Sie ist auch sehr empfindlich.
Und weil uns diese Zwangsvererbung des Ich so nahegeht, habe ich auch alles, was ich in diesem Text über mich und meine Eltern erzähle, erfunden. Wir sind selbstverständlich komplett unterschiedliche Menschen. Ich bin total unabhängig, frei und selbst. Nur den Hang zum eitlen Flunkern – den habe ich von meinen Eltern geerbt.