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Ding der Woche: Die Papiertüte
Bisher führte die Papiertüte eher ein Schattendasein. Ökologisch korrekter als die Plastiktüte, dennoch irgendwie verkannt. Nicht sehr stabil, deshalb weniger vielseitig nutzbar als etwa die Tüte aus Stoff, weshalb ihr bislang auch deren Renaissance als Mode-Accessoire verwehrt blieb. Die Papiertüte war ein Gegenstand, der wenig alternative Nutzungsmöglichkeiten bot, abgesehen von diesem fäkalsten aller Klingelstreiche mit der Hundekacke.
Bis zu dieser Woche.
Denn auf der Berlinale wurde die Papiertüte auf dem Kopf des ehemaligen Kinderstars Shia LaBeouf zum gesellschaftlichen Statement. In schwarzen Buchstaben stand darauf: „I AM NOT FAMOUS ANYMORE“. Damit hat die Papiertüte bekommen, was der Künstler offenbar abzuschütteln versucht – mediale Aufmerksamkeit. Seit ein paar Tagen kursieren dutzende Memes zu dem Thema in den Sozialen Medien. Mal wird die Aufschrift auf der Tüte variiert oder die Komposition durch weitere Gadgets ergänzt, mal gleich der komplette Auftritt nachinszeniert. Es gibt bereits „I AM NOT FAMOUS ANYMORE“-Shirts für sie und ihn in zwanzig verschiedenen Farben.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Auftritt LaBeouf, und alle fragen: Drogen? Sinnkrise? Oder Guerilla-PR für den nächsten Film?
Aber worum geht es hier überhaupt? Es war keineswegs ein spontaner Auftritt, den LaBeouf bei der Berlinale hinlegte. Er war schon im Januar in Los Angeles mit seiner Berlinale-Maske unterwegs gewesen und dabei fotografiert worden. Am 10. Januar verkündete er seinen Rücktritt aus dem öffentlichen Leben, seither twittert er den Satz täglich. Es ist eine Art Mantra der selbstgewählten Post-Prominenz.
Seit dem Auftritt auf dem roten Teppich und der nicht minder skurrilen Pressekonferenz zum neuen Lars-von-Trier-Film „Nymphomaniac“ diskutiert die Hollywood-Presse nun: Was geht bei dem Mann? Drogen? Sinnkrise? Oder doch einfach geschickt kalkulierte Film-Promo für den nächsten Arthouse-Film? Wir erinnern uns: Vor ein paar Jahren hat Joaquin Phoenix mit Rauschebart mal ähnlich verstörende Dinge auf Filmpremieren von sich gegeben – am Ende entpuppte es sich als Werbung für eine Pseudo-Dokumentation über den Abstieg eines Filmstars.
Was LaBeouf gerade umtreibt, kann man bisher nur spekulieren. Klar ist: Er war wegen Plagiatsvorwürfen bei einem Kurzfilmprojekt seit Dezember auf Twitter schwer unter Beschuss. Klar ist auch, dass der „Transformers“-Star angefangen hat, sich mit Philosophie zu beschäftigen. Das Ergebnis ist jetzt in einer Galerie in Beverly Hills zu bestaunen. Da können Besucher sehen, wie ein stummer Shia LaBeouf auf einem Stuhl sitzt und - weint. Das ganze wird mit #IAMSORRY betitelt und soll eine Art Selbstkasteiung für den versündigten Künstler sein. Man kann davon halten, was man will, interessant ist: Die Papiertüte ist mittendrin! Er trägt sie auf dem Kopf, während er weint.
Und LaBeouf ist nicht der erste Star, der zur Tüte greift. Seine „Transformers“-Filmpartnerin Megan Fox wurde 2009 von einem Interviewer gebeten, sich damit zu bedecken, weil sie ihn „ablenke“. Gut möglich, dass LaBeouf hier auf einen guten Gedanken kam. Ein Jahr später landete Sängerin Ke$ha mit Tüte auf dem Kopf auf dem Flughafen Los Angeles. Ihr Modell kam dem von LaBeouf schon ziemlich nah, auch wenn die Aufschrift noch fehlte.
Und damit kämen wir zur Sprachebene: Die Papiertüte hat es im Englischen zum umgangsprachlichen Verb geschafft: To paper bag bezeichnet das Verbergen von etwas meist Hässlichem. In der Regel sind das weniger attraktive Gelegenheitsbekanntschaften, mit denen man noch intim werden will. Falls das nicht ausreicht, kennt der Anglophone noch die Steigerungsform to double paper bag, wobei zur Sicherheit beide Bekanntschaften eine Tüte tragen. Diese Technik wird allerdings nur in Härtefällen angewandt.
Die Vorstellung, jemandem eine Tüte über den Kopf zu ziehen, ist also nicht neu. Dass sie auf einem roten Teppich zum Smoking getragen wird, ist für die Papiertüte als Erfolg zu bewerten. Vielleicht sehen wir sie nach diesem Durchbruch in Zukunft öfter als Botschaftsträger jedweder Art. Gerade auf Demonstrationen mit Eskalationspotential, Stichwort Ukraine, Stichwort Erdogan, böte sie gegenüber dem herkömmlichen Plakat eigentlich nur Vorteile: Sie erlaubt Flexibilität in der Benutzung beider Fäuste, garantiert gleichzeitig Anonymität - während die politische Botschaft jederzeit lesbar bleibt. Nur sollte diese Botschaft möglichst etwas weniger rätselhaft sein als die von Shia LaBeouf.
Text: jetzt-redaktion - Piet van Riesenbeck, Foto: dpa