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Entschuldigung, ich bin im Netz
Kannst du den jetzt nicht mal weglegen?" Mein Freund und ich sitzen auf dem Balkon und frühstücken, er nickt in Richtung des Laptops, der auf meinem Schoß liegt. Ich sage: „Ich lese doch nur Zeitung." Er sagt: „Du bist internetsüchtig."
Obwohl mein Freund mindestens so viel Zeit vor dem Computer verbringt wie ich, scheint auch in ihm ein Bild festzustecken, das ganz tief in das Unterbewusstsein meiner Generation gepflanzt wurde: „Wenn du zu lange vor dem Bildschirm sitzt, kriegst du viereckige Augen!" Diesen Satz haben Erwachsene gesagt, als ich klein war. Damals schützte er mich davor, zu viel fernzusehen. Er bewahrte meinen Bruder davor, zu viel „Age Of Empires II" zu spielen. Er half, die hohen Minutenkosten des Einwählinternets in Schach zu halten, und er war nützlich, wenn es darum ging, regelmäßige Geschwisterstreits vor dem einzigen Computer des Hauses einzudämmen. Alles, was er heute noch tut, ist: mich grenzenlos verunsichern, sobald ich länger als eine Stunde vor einem Bildschirm sitze.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Einen Sinn ergibt der Satz eigentlich schon lange nicht mehr, denn die Welt, aus der er stammt, existiert nicht mehr. Das Internet ist kein in Maßen zu genießendes Luxusgut mehr. Der Computer ist heute dank Internet mein Arbeitsgerät, meine Bibliothek, mein Fotoalbum, er ist mein Bankkonto, mein Klamottengeschäft, mein Tagebuch, mein Schrank voll Briefpapier, mein Fernseher, mein Videotelefon, mein Brockhaus, meine Yogaanleitung, mein Kochbuch. Mein Laptop ist mein Allround-Werkzeug des täglichen Lebens. Und wenn ich ihn nicht dabeihaben kann, übernimmt mein iPhone seine wichtigsten Aufgaben. Der Vorsatz, meinen Computer nicht länger als eine halbe Stunde am Tag zu gebrauchen, wäre wie der Befehl eines kriegserfahrenen Großvaters, in Zeiten allgegenwärtiger Verfügbarkeit von Lebensmitteln statt der frischen Semmeln das schimmlige Brot aus der Plastiktüte in der Speisekammer aufzuessen. Es ist schlicht und einfach: unzeitgemäßer Bullshit. Trotzdem höre ich immer wieder solch eine mahnende Stimme in meinem Kopf, die mein Leben nach einem veralteten Wertesystem beurteilt. Und damit bin ich nicht allein.
Wenn ich in meinem Freundeskreis herumfrage, ernte ich kräftige Zustimmung. Alle kennen dieses diffuse schlechte Gewissen vor dem Bildschirm, sei es vor dem Laptop, dem Nintendo DS, dem Handy oder dem Fernseher. Der einzige Moment, in dem wir völlig reinen Gewissens vor dem Bildschirm sitzen, ist, wenn wir arbeiten. „Wenn ich was für die Uni mache, dann geht es noch", sagt meine beste Freundin. Der Lernauftrag legitimiert für sie die vielen Stunden vor dem Laptop. Nutze sie ihn aber im privaten Interesse, sei das schlechte Gewissen schlagartig da.
Wenn ich im Urlaub bei Google nach diesem Museum suche, das ich nicht finden kann, oder wenn ich einen schönen Satz entdecke, den ich in den Notizblock meines iPhones tippe, dann will ich mich damit stets besonders beeilen, weil ich mich schlecht dabei fühle, schon wieder vor diesem kleinen Bildschirm zu hantieren. Obwohl mich jeder Medienprofessor mit bewunderndem Unterton als „Digital Native" bezeichnen würde, empfinde ich es immer noch als „erlaubter", Papier zu benutzen. Oder echte Reiseführer. Sobald die Augen auf einen Bildschirm geheftet sind, scheint das auf etwas Zerstörerisches hinzuweisen. Helles Neonlicht auf einem fahlen Gesicht – da kann die Verkümmerung der sozialen Kontakte nicht mehr weit sein. Es ist das Sinnbild für Einsamkeit im Virtuellen, tausendmal gedruckt und verbreitet. Es ist wie ein Mahnmal, das klarmachen soll: Da vergammelt einer sein Leben. Vor einem Bildschirm!
Eigentlich gibt es diesen Konflikt, den ich mit dem Bildschirm austrage, seit es Häuser gibt. Oder Autos. Aus Sätzen wie „Geh doch mal nach draußen" oder „Fahr doch besser mit dem Fahrrad" spricht immer dieselbe Angst: Die Menschen haben Furcht, den Kontakt zur Natur zu verlieren, zu dem Ort, an dem, angeblich, jenes Leben stattfindet, das unsere Existenz mit Sinn füllt. Nur draußen kann ich buchstäblich, mit meinen Händen und Füßen, Spuren hinterlassen. Tatsächlich schreibe ich kaum mehr mit Füllern, ich gehe selten den Weg zum Briefkasten, ich laufe nicht mehr so häufig in einen Laden und suche mir dort Dinge aus, indem ich sie anfasse, drehe und wende und dabei vielen anderen Menschen begegne. Wahrscheinlich gehe ich deshalb auch immer häufiger mit meinem Laptop in ein Café oder mindestens auf den Balkon, wenn ich viel daran zu tun habe. So gaukele ich mir vor, mich dem Leben „da draußen" auszusetzen. Diese neu erweckte Sehnsucht nach dem Analogen rührt auch daher, dass ich virtuellen Spuren nicht traue. Selbst wenn ich meine Festplatte extern sichere – wer sagt mir, dass sie in zehn Jahren noch funktionstüchtig ist? Was, wenn meine Enkel dann nie wissen werden, wie ihre Großeltern aussahen, weil es keine Papiererzeugnisse mehr gibt, keine analogen Fotoarchive, weil wir den digitalen Möglichkeiten zu sehr vertraut haben? Was, wenn das digitale Zeitalter in einigen tausend Jahren als rätselhafter weißer Fleck in der Menschheitsgeschichte prangt, weil ein böser Mensch alle Server geschrottet hat?
Eine Freundin geht schon jetzt den Weg zurück ins Analoge. Sie war ein großer Internetfan mit eigenem Blog und zahlreichen, prall gefüllten, Facebook-Fotoalben. Nun sagt sie, das alles sei nicht das Wahre. Das echte Leben finde woanders statt. Und doch gehört sie noch immer zu den Menschen meiner Timeline, die mit Abstand die meisten Fotos auf Facebook hochladen. Sie kommt nicht weg aus diesem digitalen Leben. Es ist, als hätten wir gemeinsam vor Jahren angefangen, uns ein Haus zu bauen auf einem Grund, von dem unsere Eltern schon immer gesagt haben, dass es kein guter Ort ist. Weil die Schauergeschichten über diesen Ort nicht aufhören, weil dieser Ort übervölkert und oft auch verwirrend geworden ist, versuchen es manche mit einem Umzug, einem Wegzug. Doch es funktioniert nicht. Am besten beschreibt dieses ambivalente Verhalten wahrscheinlich die aktuelle Bacardi-Werbung: „Ausgehen ist das neue Einloggen" titelt sie und propagiert damit eine vermeintlich internetabgewandte und realitätszugewandte Haltung. Gleichzeitig fordert der Schnapsproduzent auf demselben Plakat auf, bei Facebook Fan der Marke zu werden.
Wir stehen auf einer komischen Schwelle zwischen analog und digital, weil wir immer noch nicht wissen, in welchem Maß wir Leben und Digitalisierung so nebeneinanderher führen sollen, dass es uns glücklich macht. Selbst meine im Jahr 1995 geborene Schwester, die ein Leben ohne Internet noch weniger kennt als ich, hat ihren Frieden mit dem Medium nicht gefunden. „Wie soll ich denn glauben, dass es völlig in Ordnung ist, was ich tue, wenn immer irgendwer von den Großen in mein Zimmer kommt und sagt: Bist du schon wieder auf Facebook? Geh doch mal an die frische Luft! Dabei treffe ich meine Freunde total oft in Echt und habe überhaupt nicht das Gefühl, irgendetwas zu verpassen."
Und im Grunde hat sie völlig recht. Ich kenne auch niemanden, der wegen zu ausgiebiger Computernutzung sozial verkommen wäre. Wenn man es genau nimmt, entbehrt unser schlechtes Gewissen jeder Grundlage. Mit Haus und Auto haben wir uns doch auch weitestgehend versöhnt – beide haben uns erwiesenermaßen nicht davon abgehalten, ein glückliches Leben zu führen. Im Gegenteil. Ähnlich muss eine Versöhnung mit dem Bildschirm, mit dem Internet, mit allem Digitalen möglich sein.
Mich wird keine Computertechnologie jemals davon abhalten, Freunde zu treffen, Fahrrad zu fahren, ins Meer zu springen und in fremde Länder zu reisen. Was sie hingegen tun wird, ist, mich um lästiges Gepäck erleichtern: Ich werde beim Reisen nie wieder mehr als ein Smartphone und ein paar Unterhosen mit mir herumschleppen müssen. Und diese Freiheit ist mir verdammt viel wert. Genau das sage ich meinem Freund, bevor ich in mein analoges Marmeladenbrötchen beiße. Dann ermahne ich ihn, dass er nicht so viel Zeitung lesen soll, weil man davon knittrige Augen bekommt.