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Wikipedia: Interview mit einer 16-jährigen Autorin
Platon war kein Wettermoderator und Charlie Sheen ist nicht halb Mann, halb Kokain. Ihre Wikipedia-Artikel haben all das aber schon behauptet. Fehler und Vandalismus in Wikipedia-Artikeln: Sie machen die Online-Enzyklopädie unglaubwürdig und rechtfertigen den Satz eines jeden Professors, dass man die Artikel nicht zitieren soll. Dabei sind falsche Informationen dort eigentlich einfach zu beheben. Denn das Prinzip ist: Jeder darf in der Online-Enzyklopädie lesen und jeder darf sie auch bearbeiten. Doch nur die wenigsten machen Letzeres. Wikipedia hat schon seit langem ein Autoren-Problem.
„Freddy2001“ ist einer der wenigen Menschen, die etwas gegen das Qualitätsproblem tun. Im Profil ist nicht viel über den Menschen dahinter zu erfahren. Dort steht nur, dass er mehrere Programmiersprachen beherrscht, welche Betriebssysteme er benutzt, dass er sich für Fotografie interessiert und neben Englisch auch ein wenig Holländisch spricht. Auch den richtigen Namen verrät das Profil nicht. Über einen E-Mail-Button kann man den Nutzer kontaktieren.
Freddy2001 heißt eigentlich Isabelle und ist 16 Jahre alt. Ihr Pseudonym Freddy2001 setzt sich aus ihrem Zweitnamen Friederike und ihrem Geburtsjahr zusammen. Vor fünf Jahren wurde sie durch einen fehlerhaften Artikel über ihr Heimatdorf nahe Mönchengladbach zur Wikipedianerin. Da war sie elf Jahre alt. In dem Artikel war noch der alte Bürgermeister genannt. Der Fehler hat sie so sehr genervt, dass sie ihn nicht stehen lassen wollte. Sie meldete sich an, verlinkte den richtigen Bürgermeister und war von dem simplen Wikipedia-Prinzip angefixt. Bald danach erstellte sie ihren ersten eigenen Eintrag: über den Bahnhof ihres Heimatsortes. Die Informationen holte sie sich aus Büchern oder Internetquellen.
Ihre Mitschüler nennen sie „lebendes Lexikon“
Mittlerweile verbringt Isabelle mehrere Stunden am Tag in der Wikipedia-Community. Sie ist sogar eines von elf gewählten Mitgliedern des Schiedsgerichts – der höchsten Instanz von Wikipedia. In der Schule wird sie wegen ihres Hobbys aus Scherz „lebendes Lexikon“ genannt. Aber sie sei kein Überflieger, nur eine durchschnittliche Schülerin, sagt Isabelle am Telefon. Aber: „Ich weiß vielleicht besser, wie ich Informationen schnell finde und neutral schreibe”, sagt sie. Wenn Isabelle anderen Wikipedianern erzählt, dass sie drei Monate jünger ist als die Enzyklopädie selbst, wird sie erstaunt angeschaut. „Die Anonymität gibt mir Schutz“, sagt Isabelle. „Ich werde nicht auf mein Alter reduziert. Nur meine Leistung zählt.“ Deshalb möchte sie ihren Nachnamen auch nicht nennen.
In der Wikipedia arbeiten nur die wenigsten Autoren mit ihrem Klarnamen. Der Ton bei Artikel-Diskussionen ist rau, nicht selten kommt es dabei zu persönlichen Anfeindungen. Die muss sich Isabelle zum Beispiel anhören, weil sie eine Frau ist. „Es gibt viele männliche Benutzer, die damit ein Problem haben und nicht akzeptieren, dass man auch als Frau gute Beiträge leisten kann”, sagt sie.
Frauen sind seit Gründung der Wikipedia vor 16 Jahren unterrepräsentiert. Nur etwa zehn Prozent der deutschen Autoren sind einer Umfrage der Wikimedia nach weiblich. „Ich finde es schade, dass das Frausein in der Wikipedia immer noch eine Angriffsfläche ist”, sagt Isabelle. Viele Frauen hätten keine Lust auf Machtspielchen und soziale Rollenkämpfe und würden ihr Geschlecht deshalb im Profil gar nicht erst preisgeben.
Der typische Wikipedianer ist der Statistik nach weiß, männlich, Single und etwa 33 Jahre alt. Kritiker sagen, das beeinflusse die Themen und führe zu einem männlich-dominierten Geschichtsbild in den Artikeln. Verschiedene Gruppen, in denen sich Frauen zusammenschließen, versuchen seit Jahren, das zu ändern und weibliche Autorinnen zu fördern.
Sogar der Wikipedia-Gründer kritisierte 2007 in einem Interview mit die Einstellung von Wikipedia-Autoren
Isabelle verfasst am liebsten Artikel über Minderheiten, wie zum Beispiel über Transsexuelle. „Der Bereich ist in der deutschsprachigen Wikipedia sehr dünn, da gibt es viele Sachen, die noch geschrieben werden müssen”, sagt sie. In einer entsprechenden Liste werden Personen und Themen gesammelt, für die noch ein Artikel erstellt werden muss. Isabelle und andere interessierte Autoren arbeiten die Liste dann nach und nach ab. Als nächstes wird sie einen Artikel zu der TV-Serie „I am Jazz” schreiben, in der ein Jungen im falschen Körper geboren wurde und zur Frau wird. „Den Artikel gibt es bereits in der englischsprachigen Wikipedia. Ich kann ihn also einfach ins Deutsche übersetzen”, erklärt Isabelle. Und dann geht die Arbeit erst los. Der Artikel muss sich beweisen. Ist das Thema relevant? Reicht die Qualität?
Bei diesen Fragen kann jeder angemeldete User mitdiskutieren, den Text verändern oder ganz löschen. Viele Autoren beharren auf ihren Meinungen, zeigen keine Einsicht. Dadurch wird die separate Diskussionsseite oft länger als der eigentliche Artikel.
Noch schlimmer ist es, wenn der Konflikt direkt im Artikel ausgetragen wird. In solchen „Edit-Wars” schreibt ein Nutzer etwas in den Artikel rein, das von einem anderen direkt wieder gelöscht wird. Gewinner ist dann, wer am längsten durchhält, nicht wer das beste Argument hat. Isabelle nerven solche Diskussionen, die sich nur im Kreis drehen. Sogar Wikipedia-Gründer Jimmy Wales kritisierte 2007 in einem Interview mit der New York Times die Einstellung von Wikipedia-Autoren. Er sagte, dass einige Wikipedia-Autoren eingebildete Idioten seien, die nicht gar nicht schreiben sollten.
Vandalismus, Falschnachrichten, Anfeindungen – all das sind Gründe, warum sich immer weniger Freiwillige in der Wikipedia engagieren. Sie alle arbeiten schließlich ehrenamtlich. Isabelle wird aufgrund ihres hohen Engagements aber von der Wikimedia Foundation unterstützt. Sie fährt zu vielen Wikipedia-Treffen, war im Sommer beim Jahrestreffen in Kanada. Die Reisekosten hat die Wikimedia Foundation übernommen. Als Schülerin könne sie sich solche Reisen sonst nicht leisten.
„Diese Benutzerin ist ein echtes Phänomen“
Bei den Treffen mit anderen Wikipedianern verschmelzen die Nutzerin „Freddy2001“ und die Person Isabelle. „Ich würde nicht sagen, dass ‚Freddy2001’ und ich sehr verschieden sind”, sagt sie. Online genießt sie die Diskussionen als Freddy2001, „da muss man sehr spitzfindig sein und die richtige Formulierung oder den entscheidenden Fakt finden, um zu überzeugen”, sagt sie. Wikipedianer haben ihre ganz eigene Art zu diskutieren. Emotionen und Ironie sind über die wenigen Zeilen schwer zu vermitteln. Auch deshalb wirken Diskussionen für Außenstehende kühl und unfreundlich.
Bei den Treffen stellt Isabelle oft fest, dass hinter einem sehr draufgängerischen Pseudonym oft eine eher schüchterne Person steckt. In der Wikipedia seien aber alle gleich: „Der eine ist Professor, der andere Schüler. Bei einem persönlichen Treffen wäre die Hierarchie klar, aber bei Wikipedia zählen nur die besseren Quellen.” Die anderen Autoren schätzen Freddy2001 wegen ihrer guten Arbeit. Im September wurde sie von der Wikipedia-Community mit der „SupportEule“ ausgezeichnet. In der Nominierung heißt es über Isabelle: „Diese Benutzerin ist ein echtes Phänomen. Sie kann gefühlt alles, und ist doch erst 16 Jahre alt. Sie kennt sich sehr gut mit allen technischen Belangen aus, programmiert Bots und Vorlagen und steht jederzeit hilfreich zur Verfügung, wenn Fragen dazu aufkommen.“ Wikipedia ist für Isabelle in den letzten Jahren zu mehr als einem Hobby geworden. Die Arbeit fordert viel Geduld im Umgang mit den anderen Mitgliedern, aber sie trägt Verantwortung und kann auch in ihrem jungen Alter etwas bewegen.
*Johanna Sagmeister ist Schülerin der Deutschen Journalistenschule. Dieser Text ist entstanden im Rahmen des Zündfunk-Netzkongresses, der Digital Kongress vom Bayerischen Rundfunk und der Süddeutschen Zeitung.