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Schade, Tinder, dass wir uns nie kennengelernt haben

Illustration: Daniela Rudolf

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Wie lange es her ist, dass ich das letzte Mal Single war, merke ich vor allem, wenn in Gesprächen das Thema „Tinder“ dran kommt. Dann kann ich nicht gut mitreden. Als ich das letzte Mal Single war, gab es Tinder noch nicht, und Online-Dating hatte generell noch den Ruf, was für Loser zu sein, die es „im echten Leben“ nicht hinkriegen. Ich habe also keine eigenen Anekdoten, und das ist immer doof, wenn man mitreden will.

Aber egal, damit komme ich klar. Halte ich halt mal ne Weile die Klappe. Was mich stört, ist die seltsame Tinder-Sehnsucht, die dann in mir aufkeimt.

Ich bin schon einige Jahre mit meiner Freundin zusammen. Ich möchte, dass das noch 50 oder 80 Jahre so bleibt, denn sie ist das Beste, was mir je passiert ist. Alles super also. Aber trotzdem ist da manchmal dieses komische Gefühl, etwas verpasst zu haben: ein Single-Leben in Zeiten von Tinder. Das heißt nicht, dass ich jetzt am liebsten sofort lostindern will. Wie gesagt, ich bin sehr glücklich mit meiner Freundin. Ich finde es nur traurig, dass es Tinder noch nicht gab, als ich das letzte Mal Single war und ich nie die Gelegenheit hatte, das auszuprobieren. Tinder, denke ich, schade, dass wir uns nie richtig kennengelernt haben. Wir hätten uns bestimmt gut verstanden.

Tinder bringt Gamification und Sex zusammen – eine ziemlich mächtige Kombination

Es gibt ein paar ungeschriebene Gesetze im Liebes- und Paarungsverhalten der Menschen. Eines davon lautet: Die meisten Singles wünschen sich eine Beziehung, mit Vertrauen, Geborgenheit, Nähe. Und wenn sie diese Beziehung dann haben und ein paar Jahre ins Land ziehen, wünschen sie sich in manchen Momenten ihre Single-Freiheit und Abwechslung und Abenteuer zurück.

Beides ist völlig normal. Ein Singlemensch sucht instinktiv nach einem Partner, das will die Natur so. Und ein lange verpartnerter Mensch sehnt sich nach Sex mit anderen Menschen als dem langjährigen Partner, auch das will die Natur so – zumindest deutet sehr viel darauf hin, dass wir nicht für ewige Monogamie geschaffen sind, sondern sie uns im Laufe der Jahrtausende selbst auferlegt haben.

Tinder verstärkt beide Gefühle. Menschen, die die App benutzen, erzählen von einer gewissen Sucht: Die Partner*innen-Suche wird zum Spiel, mit der man jede freie Minute verbringen kann. An der Bushaltestelle, auf dem Klo, überall checken sie plötzlich potenzielle Bettgenossinnen und -genossen. Tinder bringt Gamification und Sex zusammen – eine ziemlich mächtige Kombination.

Tinder verspricht die Aussicht auf Liebe und minimiert das Risiko auf direkte Zurückweisung

Und gleichzeitig erscheint ein Singleleben in Zeiten von Tinder plötzlich viel attraktiver. Vor allem aus meiner Perspektive und der meiner Mitmenschen, die ebenfalls  länger in einer Beziehung sind als Tinder existiert und es vielleicht nie benutzen werden. Für uns ist Tinder eine Verheißung. Denn alles Nervige, was einen am Singleleben ankotzt, scheint Tinder zu eliminieren. Tinder ist so simpel wie Flirten in einer Bar: Du schaust dich um, der optische erste Eindruck entscheidet, ob du Kontakt aufnimmst, alles andere ist erst mal egal. Was fehlt, sind all die unangenehmen Nebeneffekte des Ausgeh-Flirtens: Ich muss in keine Bar gehen, ich muss nicht mal die Couch verlassen, mich anziehen oder die Zähne putzen oder mich rasieren. Ich muss niemanden ansprechen oder – noch viel schlimmer – im Club jemanden antanzen oder Blickkontakt herstellen oder sonst irgendeinen unangenehmen Balz-Kram vollführen. Und, das ist vielleicht das Wichtigste: Ein nicht erwiderter Rechts-Swipe auf Tinder verletzt einen sehr viel weniger als ein Face-to-Face-Korb. Tinder verspricht die Aussicht auf Liebe und minimiert das Risiko auf direkte Zurückweisung.

Zusätzlich wird mir das lästige und langwierige Profil-Anlegen und -Checken des herkömmlichen Online-Datings erspart, es geht zunächst mal nicht um gemeinsame Interessen oder Status, sondern nur um ein Bild, um sympathisch oder nicht, um attraktiv oder nicht. Das Telefon, das du immer dabei hast, ist plötzlich eine Wundertüte voller Überraschungen. Tinder verspricht mir das Beste aus der analogen und der digitalen Flirt-Welt bei gleichzeitiger Abwesenheit der Abtörner beider Welten.

So ein Tinder-Singleleben stelle ich mir wunderbar vor. Ein Schlaraffenland des unverbindlichen Sex, ein ewiger Flirt, eine unendliche Aneinanderreihung von Chancen.

Natürlich blende ich in dieser Vorstellung einiges aus. Vermutlich vor allem, weil ich selbst keine negativen Erfahrungen in der Tinder-Realtität gemacht habe und weil das, was ich darüber gelesen habe, eher positiv behaftet war. Ich blende die vielen Chats aus, in denen man ohne Ergebnis mit wildfremden Menschen über belangloses Zeug redet. Ich blende aus, dass auch nach einer Weile chatten immer noch ein paar Schritte fehlen, bis Menschen miteinander im Bett landen und dass es auch auf diesem Weg noch einige Möglichkeiten gibt, zurückgewiesen zu werden oder peinliche bis unangenehme Situationen zu erleben. Ich blende aus, dass Profilfotos oft wenig mit der Realität zu tun haben. Und ich blende aus, dass die Zahlen gegen meine Vorstellung vom Schlaraffenland sprechen. Ein attraktiver Mann wird, so hat ein Versuch ergeben, statistisch von 20 Prozent der Frauen geliket, die er nach rechts wischt. Ein durchschnittlich attraktiver Typ hingegen hat nur eine Erfolgsquote von unter einem Prozent. Er muss also 115 mal nach rechts wischen, um ein Match zu bekommen. Und, das sollte man an dieser Stelle auch nicht vergessen, selbst dann ist er immer noch ein gutes Stück entfernt von Sex oder Liebe oder was auch immer er sucht.

Am Ende ist es okay, dass Tinder und ich uns nie richtig kennengelernt haben

Das Gute ist: Mit dieser Technik des Etwas-genauer-Hinschauens lässt sich meine Tinder-Sehnsucht gut zurückdrängen. So ist es ja meistens: Wenn uns eine Sehnsucht übermannt, liegt das oft auch daran, dass man ein Stück der Realität ausblendet und ihre negativen Seiten vergisst. Wer sich nach einem Leben an einem einsamen Strand mit türkisblauem Karibikwasser in Indonesien sehnt, denkt nicht an das Malaria-Risiko und vergisst gerne, dass man da nie ins Kino gehen kann, weil die nächste Stadt eineinhalb Tage entfernt ist, und dass Banana Pancakes nach drei Wochen auch langweilen. Wie gesagt, bei Tinder ist das genauso. Meine Sehnsucht blendet die negativen Seiten aus. Genau wie Menschen in Beziehungen in ihrer Sehnsucht nach Sexabenteuern und Fremdknutschen vergessen, dass einem als Single echte Liebe und lange Jahre gereiftes Vertrauen fehlt.

An all das werde ich also in Zukunft einfach immer denken, wenn meine Tinder-Sehnsucht hochkommt. Tinder, werde ich dann sagen, schon okay, dass wir uns nie richtig kennengelernt haben.

Hinweis: Dieser Text wurde zum ersten Mal am 15.09.2017 veröffentlicht und noch einmal aktualisiert.

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