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Gretchen Andrew macht Suchmaschinen-Kunst

„Ich nehme mir die Kontrolle“, sagt Gretchen Andrew.
Foto: Annka Kuktys Gallery

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Angenommen, man gibt bei der Google-Bildersuche „the next american president“ ein, was für ein Ergebnis würde man erwarten? Vermutlich Fotos von Joe Biden, vielleicht auch von Donald Trump. Stattdessen antwortet Google als erstes mit einer Collage: einer Art blauem Strudel aus Herzen, Sternen, Wolken. Das nächste Bild: eine junge Frau im Schneidersitz, die ein USA-Fähnchen schwenkt. Ein paar Bilder weiter posiert sie mit einer Heißklebepistole in der Hand. Etwas weiter unten taucht dann auch ein grimmiger Donald Trump auf, daneben ein vorsichtig lächelnder Joe Biden; doch ihre Bilder sind umrahmt von dieser Frau und ihren Collagen. Zwar änderte der Algorithmus im Laufe der Zeit auch mal die Reihenfolge der Bilder, die Köpfe der beiden Politiker werden so allerdings schon seit Monaten nach unten gedrängt. Was in der Welt von Google immerhin so viel heißt wie: in Richtung der Bedeutungslosigkeit.

Die Frau auf den Fotos, die dafür verantwortlich ist, heißt Gretchen Andrew und ist 32 Jahre alt. Sie nennt sich „Search Engine Artist“, Suchmaschinenkünstlerin. Kurz gesagt überlegt sich Andrew, wer oder was sie gerne wäre und programmiert diese Vorstellung in die Realität, zumindest in die der weltweit größten Suchmaschine. So schleuste sie sich unter die Gewinner*innen des Turner-Kunstpreises – eines ihrer Bilder sah man jedenfalls kurzzeitig unter den ersten Suchergebnissen. Und das aktuelle „cover of artforum“, des amerikanischen Kunstmagazins? Präsentiert nun laut Google einen pinken Pizzakarton. Bald soll Andrews Collagen auch finden, wer eine Karte der EU sucht. Teil der entsprechenden Collage sollen Skizzen ihrer liebsten Gebäude in London sein und eine Hotel-Schlüsselkarte von ihrem letzten Besuch in der Stadt. Das findet Andrew besser als eine Karte, auf der Großbritannien nicht mehr zu sehen ist (mit dem Brexit ist die US-Amerikanerin nicht wirklich einverstanden). Man kann das witzig finden oder albern – Humor gehört hier ganz offensichtlich zum Konzept. Aber Andrew ist auch Feministin, und fragt man sie, was all das zu bedeuten hat, antwortet sie: „Ich nehme mir die Kontrolle.“

Aufrecht sitzt sie vor ihrem Bildschirm, die langen Haare hinter die Ohren geschoben. Immer wieder rückt sie ihre kabellosen Kopfhörer zurecht, nippt an ihrer Kaffeetasse. In Los Angeles, wo Andrew lebt, ist es noch früh am Morgen. Sie hat sich so positioniert, dass nicht nur sie, sondern auch ihre Collagen im Hintergrund gut ausgeleuchtet sind. Manchmal dreht sie sich ein wenig, damit man auch die Details erkennen kann: Rosen, Sahnetorten, der Schriftzug „princess“. Eine Wand wie ein Wimmelbild. 

Google sei so etwas wie ihre „dream machine“, sagt Gretchen Andrew

Seit rund fünf Jahren arbeitet Andrew als Künstlerin, das vergangene Jahr sei „sehr erfolgreich“ gewesen. Anfangs malte sie Ölgemälde, vor zwei Jahren begann sie mit den Collagen – sie selbst nennt sie „vision boards“. Google sei so etwas wie ihre „dream machine“, die ihre Ideen und Vorstellungen der ganzen Welt spiegeln könne. So schwierig es die Pandemie vielen Künstler*innen auch gemacht hat, Andrews Werke gelangten in dieser Zeit von Googles Galerie in die Kunsthäuser, von L.A. nach Europa. Ein Fotomuseum in London, Galerien in Berlin und der Schweiz wollen ihre Collagen zeigen, in Österreich ist eine Ausstellungsreihe geplant. 

Wer diesen Erfolg verstehen möchte, muss die Fragen kennen, die sich Andrew stellt, und das sind im Grunde drei. Die erste: Wie sieht Macht im Netz aus? Die „Ästhetik der Macht“ schien ihr dort immer noch eng mit männlichen Stereotypen verbunden zu sein, vor allem, wenn es um Politik oder Technologie ging. Auch die Algorithmen orientieren sich an einer hierarchischen Idee von Kontrolle, trainiert durch den – vorwiegend männlichen – Blick des Silicon Valleys. Also holte sie die Stereotype auf die ersten Plätze der Google-Suche, die sie als Gegensatz dazu verstand: „Wer meine Collagen dort sieht, ist vor allem deswegen so überrascht, weil sie so feminin wirken, so verspielt und leidenschaftlich.“ Ihre Taktik: Aufmerksamkeit durch Irritation.

Eine Frage, die sie sich stellt: Warum denkt nicht an sie, wer an Macht denkt?

Viele ihrer Freundinnen, erzählt Andrew, seien Frauen in Machtpositionen, in Branchen, die lange Zeit von Männern dominiert wurden. In Banken, Versicherungen, in der Tech-Industrie. Also, Frage zwei: Warum denkt nicht an sie, wer an Macht denkt? Das führte sie schließlich zu Frage drei: Wie nehme ich mir die Kontrolle?

Andrew wurde in Los Angeles geboren, studierte Wirtschaftsinformatik in Boston. Nicht nur ihre Freundinnen wurden erfolgreich, auch sie selbst. Google lud sie zu mehreren Vorstellungsgesprächen ins Silicon Valley, bot ihr einen Job in der Personalabteilung an. Nach zwei Jahren kündigte sie. „Ich mag Regeln, Systeme, Algorithmen“, sagt sie. Doch diese repräsentierten sie nicht, sie verstünden nichts von menschlicher Leidenschaft, von Wünschen und Träumen. Sie verarbeiten nur Informationen. 

Amerikanische Medien beschreiben Andrew als die Frau, die Google austrickste. Das stimmt schon, findet sie, aber wichtig sei doch: Menschen trickse sie nicht aus. Wie sie arbeitet, erklärt sie öffentlich in Workshops; sie nutzt Suchmaschinenoptimierung, Computerlinguistik und künstliche Intelligenz. Sie habe keine „Armee oder russische Trolle“. Nur ihre „Heißklebepistole und ein paar Informationen“. Technisch sei es simpel, den Google-Algorithmus für die eigenen Zwecke zu nutzen, sagt zumindest Andrew. Dass es hier auch um Ressourcen geht, die von Bildung und sozialem Status abhängen, darüber spricht sie nicht. 

Andrew nutzt Bilder, die jene Stereotype widerspiegeln, die sie eigentlich abschaffen möchte. Feministische Kulturkritik in lieblichem Rosa, mit Blumen und Herzen verziert. Gehört so was nicht eher in die Schublade überholter binärer Geschlechterbilder? Sie wolle keine Systeme zerstören, sagt Andrew, sondern ihnen eine neue Bedeutung geben. Mit Systemen meint sie: die Tech-Branche, die Kunstwelt, vor allem das Internet. Und sie sagt: „Ich mag es, wenn Menschen durch meine Kunst hinterfragen, wie das Netz tatsächlich funktioniert. Und wie sie es für sich selbst arbeiten lassen können.“

Ein paar Tage nach dem Gespräch teilt Andrew eine ihrer Collagen auf Instagram: wieder viel Rosa, viel Glitzer. Wie der Kindergeburtstag einer Fünfjährigen, deren Eltern nicht nur die Gendertheoretikerin Judith Butler, sondern bereits Alice Schwarzer verschlafen haben. Andrew sagt, sie wolle sich mit schönen Dingen umgeben, sie wolle schöne Kleider tragen. Am liebsten hätte sie auch einen Tiger zum besten Freund. Sie weiß, so stellt sich die Welt keine erfolgreiche Frau vor, vielleicht auch keine Feministin. Doch es fasst zusammen, was Andrew unter Kontrolle versteht: Ihre Collagen sehen so aus, wie sie, ganz persönlich, sich die Welt erträumt. Sie möchte zeigen, dass Suchmaschinenoptimierung, das Spiel mit Technologie und Algorithmen nicht nur ein Instrument der Macht sind. Sondern auch eines der kreativen Selbstermächtigung.

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