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„Klar gucken hier manche Pornos“

Foto: Leonie Sontheimer

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Wer die „Online Welt“ von Khaled Jesidi betritt, verlässt das Jahr 2018. Sein Internetcafé wirkt ein wenig so, als hätte man es zu jener Zeit eingefroren, als Menschen auf ihren MP3-Playern noch HIM hörten, nachdem sie deren Album irgendwo runterluden. Eine Zeit, in der Matrix im Kino und O.C., California im Fernsehen liefen. Die großen, schwarzen Computer unter den Tischen summen und rasseln abwechselnd, die Tastaturen klackern laut beim Tippen, auf einigen Tischen liegen externe Webcams. Externe Webcams! Auf den Bildschirmen leuchtet dieser seltsam vertraute Hintergrund: eine hügelige Wiese, strahlend blauer Himmel, Windows XP. Das alles versetzt einen schlagartig zurück in die 2000er. Damals ging jeder irgendwann mal ins Internet-Café, denn zu Hause war das Internet zu teuer, zu langsam oder durch die Eltern reglementiert. Und an Internet auf dem Handy dachte vor 2007 sowieso niemand. 

Khaleds „Online Welt“ liegt fünf Minuten vom Münchner Hauptbahnhof entfernt. In den Läden nebenan kann man Koffer, Waffen und thailändisches Mittagessen kaufen. Es ist Mittag. Khaled Jesidi sitzt entspannt in seinem Bürostuhl hinter der weißen Theke und tippt Bestellungen in den Computer. Er trägt ein dunkelblaues Polo-Shirt und eine kurze Hose. Ein Bein liegt lässig auf dem anderen Knie. Khaled ist barfuß. Seine „Online Welt“ besteht aus einem großen Raum, der in zwei Bereiche unterteilt ist: den Ladenteil und den Computer-Teil. Regale bedecken die Wände des Ladenteils. Zigaretten. Alkohol, Schokolade und Chips. Sonnenblumenkerne, Milch, Zucker, Zahnbürsten – 08/15-Späti-Ausstattung.

Hinten im Laden befindet sich das Internet-Café. Als eine junge Frau von dort nach vorne kommt, schlüpft Khaled in seine Sandalen, drückt sich aus seinem Stuhl und zieht mehrere Seiten aus dem Drucker neben sich, ohne drauf zu schauen. Die junge Frau legt die Blätter behutsam in eine Mappe. Es ist eine Bewerbung für die Technische Uni. „Wir haben in der WG eigentlich einen Drucker“, sagt die junge Frau. Aber ihr Mitbewohner sei manchmal kompliziert, da drucke sie lieber hier. Es kommt schon noch vor, dass jemand bei Khaled etwas druckt; Bewerbungen, Anträge, Bilder von Frauen. Aber längst nicht mehr so viel wie früher.

Als Khaled das Internet-Café 2012 eröffnet hat, hatte er 20 Computer. Damals gab es Phasen, sagt er, in denen fast jeden Tag Gamer kamen und mindestens drei Stunden zockten. Mittlerweile ist die Software zu überholt für Gamer. Je älter die Computer in der „Online Welt“ wurden und je mehr Menschen draußen mit Smartphones rumliefen, desto weniger Nutzer hatte Khaled. Heute hat er nur noch acht Computer. „Das Internetcafé allein lohnt sich einfach nicht mehr“, sagt er. Wie viele Internetcafés es in München noch gibt, weiß niemand so genau. Bei den Münchner Behörden heißt es nur, man erfasse diese Zahl nicht. Der Anbieter eines Programms, das Khaled für zur Abrechnung für seine Internetkunden nutzt, hat in München etwa 75 Kunden, darunter Internet-Cafés und Callshops, aber auch Hotels und Bibliotheken. In den vergangenen Jahren sei die Zahl der Internetcafés unter ihren Kunden deutlich weniger geworden, sagt die Firma.

Zigaretten bringen mehr als das Internet

Die meisten Menschen, die heute Mittag in die „Online Welt“ kommen, kaufen Zigaretten. Das bringt mehr Geld ein als das Internet. Ein Kunde kommt durch die Tür. Ohne sich umzudrehen, greift Khaled hinter sich und holt eine weiße Packung hervor. „Wie immer?“, fragt er und kennt die Antwort schon. Der Mann kommt fast jeden Tag. Er arbeitet gegenüber in einem Büro. Mit der Schachtel verdient Khaled knapp 30 Cent.

Khaled kennt die meisten seiner Kunden. Unterhält sich ein bisschen mit ihnen, während er die neue SIM-Karte registriert oder das Geld in die Kasse steckt. Andere kommen nur ein Mal. Touristen auf der Durchreise zum Beispiel, die schnell ihre E-Mails checken müssen. Manchmal passiert es, dass jemand eine Stunde surft und dann kein Geld dabeihat. Oder eben die Cola nicht bezahlen kann. Khaled regt sich nicht darüber auf. Er hat Verständnis. Er war selbst mal ohne Geld, ohne Arbeit. 2003 kam er aus dem Nordirak nach Deutschland. Ohne Schulabschluss und ohne die Sprache zu sprechen, war es schwer, sich in München eine Existenz aufzubauen. Eine Zeit lang arbeitete Khaled 20 Stunden am Tag, hatte einen Job als Putzkraft und einen als Küchenhilfe in einem Hotel. Seit 2012 besitzt er die „Online Welt“. Und, weil die nicht genug Geld abwirft, auch noch eine kleine Wäscherei in einer anderen Straße. Khaled muss flexibel sein, um sich, seine Frau und seine drei Kinder über Wasser zu halten.

„Klar gucken hier manche Pornos“

In der vordersten Reihe sitzen zwei junge Männer. Man sieht nur ihre Hinterköpfe, beide tragen Kopfhörer, einer ein Cap. Wenn man sich ganz doll streckt, kann man einen Blick auf ihre Computer erhaschen: Einer der beiden schaut Videos auf Youtube, der andere klickt sich durch Facebook. Weiter hinten sitzt einer, der laut Khaled regelmäßig kommt, um seine E-Mails zu lesen. „Ich habe sonst nirgendwo Internet“, sagt er kurz. Warum er keins hat, sagt er nicht.

„Generell kommen die Leute her, um im Internet Pause zu machen“, sagt Khaled. Pause von der anstrengenden Realität. Es wäre technisch möglich nachzuschauen, auf welchen Seiten sie sich rumtreiben. Aber Khaled tut das nicht. Er weiß, manche kommen für Musik, andere für E-Mails und wieder andere für Filme: „Klar gucken hier manche auch Pornos“,  sagt Khaled, viel weiter ins Detail gehen möchte er nicht. „Es passieren hier Dinge, die man geheim halten muss.“ Manche Kunden wechseln den Tab, wenn man an ihnen vorbeiläuft. In einem Räumchen neben den Computern gibt es eine Toilette. „Mir ist egal, was andere Leute im Internet machen, solange sie nichts Illegales downloaden“, sagt Khaled. Dafür hat er ein Programm installiert. Gegen „Computer-Profis“, wie Khaled sagt, hilft das aber nicht. Vor ein paar Jahren musste er 1700 Euro Strafe zahlen, weil jemand illegal Musik gezogen hatte.

Khaled sagt, er selbst habe keine besondere Leidenschaft für das Internet. Er ist kein Frickler, kein Programmierer oder Gamer. Er macht im Netz seine Bestellungen und hört während der Schicht im Laden kurdische Musik über Youtube. Die „Online Welt“ hat für ihn wenig mit Leidenschaft oder Nostalgie zu tun, sie bedeutet für ihn vor allem eins: Arbeit. Wie sein Laden in fünf Jahren aussehen wird, weiß Khaled nicht. „Wenn es so weitergeht, werden hier keine Computer mehr stehen.“ 

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