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Keine Jahreszeit wird mit so vielen Ritualen begrüßt wie der Herbst

Fotos: Unsplash / Collage: jetzt.de

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Wir vergessen das gerne, aber es ist doch so: Sommer ist verdammt anstrengend. 40 Grad in der überfüllten U-Bahn. Eine halbe Stunde Anstehen vor dem Freibad und dann nur noch den Liegewiesen-Platz neben dem Klohäuschen ergattern. Die Unmöglichkeit einer Bettdecke auf den nackten Beinen. Und immer muss man rausgehen in die Sonne, denn ein Netflix-Nachmittag im Bett ist bei 25 Grad nicht nur körperlich unangenehm, sondern gesellschaftlich geächteter als Müsli mit Zucker.

Aber jetzt ist es ja ausgestanden: Es wird Herbst. Zumindest auf Instagram. Kaum regnet es mal zwei Tage am Stück und die Temperaturen draußen fallen unter 22 Grad, liegen statt Eiswürfeln und Minzblättchen plötzlich Kürbis, Kartoffeln und Pastinaken auf den sorgfältig ausgeleuchteten Küchentischen der Interior-Bloggerinnen. In sämtlichen Magazinen stehen wieder die Rezepte für Rote-Bete-Suppe und Flammkuchen mit Nüssen und Ziegenkäse. Und auch auf Twitter haben Laub-Emojis mit Herzchen die Hitzewelle-Hass-Tweets abgelöst.

Herbst ist Hype. Keine andere Jahreszeit wird rituell so begeistert begrüßt. Kaum sieht Ende August jemand das erste Blatt zu Boden segeln, rennen alle los und kaufen Kürbis, das wohl einzige Gemüse, aus dem ganz sicher noch niemals jemand was Leckeres gekocht hat. Wir setzen uns bei 20 Grad überflüssige Mützen auf und trinken Pumpkin Spice Latte, der viel zu viel Geld kostet für heiße Milch mit viel künstlichem Aroma und schon beim Rausgehen kalt ist. Es ist vollkommen albern, und wir wissen das. Aber wir geben uns das Ganze trotzdem immer wieder.

Es ist ja nicht so, dass uns das Internet da was vorgaukeln würde. Wir stecken viel tiefer drin.

In diesem Jahr geht es aber gefühlt noch früher und wilder los als sonst. Liegt es an der Erleichterung über das Ende der Rekordhitze? Oder hassen wir etwa alle eigentlich den Sommer und sagen es bloß nicht?

Es ist ja nicht so, dass uns das Internet da was vorgaukeln würde. Wir stecken viel tiefer drin. Der Jahreszeitenwechsel scheint tief verborgene Sehnsüchte zu wecken, denen wider besseren Wissens keiner widerstehen kann. Man liest die Rezepte, macht sich einen Rooibostee dazu und sucht, während man die wohlige Wärme im Bauch spürt, jedes Jahr wieder das Rilke-Gedicht raus: „Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß”. Gleichzeitig regen wir uns auf, wenn schon im Oktober die Lebkuchen in den Supermärkten liegen.

Die goldenen Tage sind ja nur die erste und leider sehr kurze Phase. Dann kommt die Dunkelheit

Klar, diese Wochen zwischen Spätsommer und Frühherbst sind wunderschön und – zumindest während ihrer goldenen Tage – angenehmer als zwei Wochen lang über dreißig Grad im Schatten. Ich liebe wenig so sehr wie lange Spaziergänge im Herbst und gehöre auch ansonsten zu denen, die sich seit Mitte Juni darauf freuen, dass durch ein offenes Fenster tatsächlich mal wieder frische Luft in die Wohnung weht.

Aber das ist ja nur die erste und leider sehr kurze Phase. Dann kommt die Dunkelheit, die nasskalte Horrorzeit von November bis Februar, wir werden mangels Sonne und Sonnencremeduft schnell wieder blass und traurig – und seien wir ehrlich: Netflix, Tee und Kuscheldecke sind da nur schwache Hilfe.

Die Herbstdepression wird längst nicht mehr als Allüre gesehen, sondern ist – ausgerechnet unter dem Namen SAD (steht für „Seasonal Affective Disorder“) – ein anerkanntes Krankheitsbild. Außerdem mangelt es im Winter an Sonnenlicht, durch das unser Körper Vitamin D produzieren kann und das unter anderem wichtig für kräftige Muskeln ist.

Wir holen noch mal alles raus, was geht. Als wäre morgen nicht nur die Hitzewelle vorbei, sondern das ganze Leben

Vielleicht ist unser Herbst-Hype also kein Konsumtick, sondern ein ziemlich genialer psychischer Abwehrmechanismus? Weil wir tief drin wissen, dass uns bald eine schlimme Zeit bevorsteht – Winter is coming! – schalten wir instinktiv auf Angriff, sobald der Sommer sich zu verabschieden beginnt. Wir holen noch mal alles raus, was geht (und entweder orange ist oder nach Apfel mit Zimt schmeckt), als wäre morgen nicht nur die Hitzewelle vorbei, sondern das ganze Leben. Und wie es sich für eine konsumverliebte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts gehört, findet das eben vor allem über hübsche Bilder auf Instagram statt.

Dass wir damit – um mal im psychoanalytischen Schema zu bleiben – das Unausweichliche verdrängen, nämlich das, was nach dem goldenen Herbst kommt, ist ja erst mal zweitrangig. Schließlich kann das Festhalten an solchen Ritualen nur hilfreich sein, auch wenn es bei näherem Hinsehen mindestens genauso sinnentleert ist wie das ganze Theater rund um Weihnachten. Oder wäre die Dunkelheit besser zu ertragen, wenn wir Ende August schon Trauer schieben würden, weil in zwei Monaten die Uhr umgestellt wird (wobei die Zeitumstellung, nebenbei bemerkt, ja demnächst womöglich abgeschafft wird)? Wohl eher nicht. Dann doch lieber Wurzelgemüse und Wolldecke. Als kleine Trotzreaktion on top kann man ja statt Bodylotion einfach Sonnencreme benutzen.

Kurz: Es ist nicht der Hass auf den Sommer, der uns vom Herbst träumen lässt, sondern die Angst vor dem Winter. Herbst ist also quasi Frühling mit umgekehrten Vorzeichen: Wir wissen, dass das alles bald vorbei ist – und deswegen muss es noch mal richtig schön werden. Das funktioniert natürlich auch ohne überzuckertes Pseudokürbisgetränk. Und ohnehin sollten wir erstmal wieder runterkommen: Nächste Woche hat es 25 Grad und Sonne. Das Vitamin D kann der Körper dann übrigens eine ganze Weile speichern.

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