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Sie singen sich glücklich
Man schließe die Augen, denke an das Wort „Chor“ und warte ab, welche Bilder vor dem inneren Auge vorbeiziehen. In der Regel dürfte man Menschen sehen, die schwarze Einheitskleidung tragen und in Hefte auf den Notenständern vor sich blicken. Die Sänger stehen wahrscheinlich aufrecht, mit geradem Rücken, wenn sie ein bisschen ausgeflippter rüberkommen möchten, schnipsen sie mit den Fingern einer Hand den Takt mit. Sie singen etwas verstaubte Lieder oder Kirchenliedgut, im besten Fall wie ein Gospelchor aus Harlem, im schlechtesten wie ein Gesangsverein einer Gemeinde, deren Name auf -hausen oder –dorf endet. Ganz sicher nicht sieht man vor seinem inneren Auge folgendes: Eine Kneipe, Bierflaschen, auch in den Händen der Sänger, extatischen Jubel am Ende des Liedes, Menschen, die man eher auf den Bildern eines Streetstyle-Blogs erwarten würde als in einem Chor.
Aber das innere Auge trügt. Denn seit etwa eineinhalb Jahren kann man so einen ungewöhnlichen Chor regelmäßig in Berliner Kneipen erleben. In dunklen, verrauchten Bars wie dem „Ä“ in der Neuköllner Weserstraße oder dem Schokoladen in Berlin Mitte drängen sich die Leute, um ihm zu lauschen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Der Kneipenchor bei einem Auftritt im Monarch in Kreuzberg.
Das Ensemble nennt sich – passenderweise – „Berliner Kneipenchor“ und ist ein Gegenentwurf zu den herkömmlichen Gesangsvereinen, denen ein staubiges, irgendwie spießiges Image anhaftet. Im Programm stehen keine Kirchenlieder, sondern Phoenix und Jay-Z. Die Sänger sind zwischen 19 und 36 Jahre alt und sehen aus wie die meisten Berliner Menschen dieses Alters, die man in Bars und Kneipen zwischen Prenzlauer Berg, Mitte, Kreuzberg und Neukölln trifft.
Gegründet hat den Chor Matze Hielscher, 32, Ex-Bassist der Band Virginia Jetzt, Berliner Veranstalter und Blogger. Ein Kumpel und ehemaliger Bandkollege suchte einen Chor. Obwohl es in Berlin rund 2000 davon gibt, fand er bei seinen Recherchen keinen, der eine gewisse Lockerheit und Jugendlichkeit ausstrahlte und moderne Stücke im Repertoire hatte. Er wollte singen, aber keine Songs, die nicht auch in seiner Playlist Platz finden würden, und nicht mit Leuten, mit denen er nicht jederzeit auch gerne auf ein Bier in eine Bar gehen würde. „Ich habe dann gesagt: Lass uns doch selbst so einen Chor gründen“, erzählt Matze. Ein paar Rundmails an den Freundeskreis später war der Berliner Kneipenchor geboren. Der besteht jetzt aus ein paar Musikern und Schauspielern, einer Ärztin, Studenten und überdurchschnittlich vielen Leuten, die man im weitesten Sinne als der Berliner Kreativbranche zugehörig bezeichnen könnte. Wie zum Beispiel der ehemalige Viva-Moderator Nilz Bokelberg. Auch er war schon länger auf der Suche nach einem Chor. „Wenn ich dann aber gelesen habe, dass die ‚Danke für diesen guten Morgen’ singen oder irgendwelche Jazzstandards, hat mich das nie genug motiviert, auch wirklich mal zu einer Probe zu gehen“, sagt er.
Jetzt, eineinhalb Jahre nach seiner Gründung, kann sich der Kneipenchor vor Konzertanfragen kaum retten. Erstaunlich ist aber vor allem, wie viele junge Leute gerne selbst mitsingen wollen. Nach den Konzerten kommen jedes Mal mehrere Leute zu Matze oder den anderen Chormitgliedern, um zu fragen, ob und wie sie mitmachen können. In seinem Mail-Postfach lagern noch Nachrichten von etwa 300 Interessenten. Das Singen an sich scheint nicht unbeliebt zu sein – nur der Chor hat offenbar ein Coolnessproblem.
Nilz Bokelberg ging einfach irgendwann zur Probe und wurde schnell ein festes Mitglied. So einfach ist es längst nicht mehr, sagt Matze: „Momentan müssen wir leider fast alle Anfragen abweisen, nur Bässe könnten wir noch gebrauchen. Der Kneipenchor soll überschaubar und familiär bleiben, mit mehr als 30 Leuten ginge das nicht.“ Nur falls mal jemand aussteigt oder eine Weile keine Zeit hat, würde Matze jemanden mit der passenden Stimmlage aussuchen. „Dann gibt es so eine Art Casting, denn die Leute müssen menschlich zu uns passen und natürlich auch vom Können her in unser Chorniveau passen – also weder zu schlecht noch zu gut sein.“
http://www.youtube.com/watch?v=0-KGTfL_P2o
Und wo liegt dieses Niveau? Die mehrstimmigen Lieder klingen ziemlich harmonisch, von Perfektion kann man aber nicht sprechen. Die Chorleiterin ist zwar Klavier- und Gesangslehrerin, einen Chor geleitet und Stücke für einen Chor aufbereitet hat sie vorher aber noch nie. Wer sich die Videos der Kneipenchor-Auftritte genau ansieht, wird merken, dass da auch mal jemand seinen Text vergisst. Aber er wird auch den Spaß sehen, den die Sänger haben, und das Gemeinschaftsgefühl, das sie ausstrahlen, wenn sie ihre Lieder anstimmen. „Das Singen in der Gruppe hat eine große Dynamik und macht einfach total glücklich“, sagt Nilz Bokelberg, der regelmäßig in der ersten Reihe des Kneipenchors steht und auch hier schon die Rolle des Ansagers übernommen hat. „Deine eigene Stimme vereinigt sich mit den anderen zu so einer Soundwand. Das ist ein bisschen, wie wenn man beim Staubsaugen in der Staubsaugertonlage mitsummt und dann so komische Schwingungen im Kopf ankommen. So ist das im Chor auch, nur noch tausendfach verstärkt.“
Matze sieht das genauso: „Mich fasziniert es zu sehen, wie ein paar Menschen mit ihren Stimmen ein großes Ganzes erschaffen. Das hat fast schon was Spirituelles.“ Er selbst ist genaugenommen aber gar nicht Teil dieses spirituellen Ganzen. Denn wenn der Chor probt oder auftritt, steht er schweigend daneben. Er kann nämlich gar nicht singen.