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Wohnraum für Flüchtlinge
Benedict findet: „Menschenwürdiges Wohnen“ sollte das Unwort des Jahres werden. Fast eine Stunde lang war er sehr gut gelaunt und enthusiastisch. Er saß im Café „Trachtenvogl“ im Münchner Glockenbachviertel, ganz vorne auf der Sofakante, erklärte sein Projekt und schwärmte davon, wie sehr die Stadt München es unterstützt. Und dann spricht man ihn auf die Diskussion um das „menschenwürdige Wohnen“ an, die gerade rund um die Flüchtlingsunterbringung geführt wird, und auf einmal wird er echt sauer. „Das suggeriert doch, dass es auch menschenunwürdiges Wohnen gibt. Und das sollten wir gar nicht erst planen!“
Mit „wir“ meint er: die Architekten. Benedict Esche ist 28 Jahre alt und Partner im Berliner Achitektur-Büro Kollektiv A. Mit zwei seiner Kollegen hat er ein Quartier im Münchner Nordosten geplant, am Stadtrand, zehn Minuten von der nächsten S-Bahn-Station entfernt. Auf dem Areal befindet sich derzeit noch eine ehemalige Holzhandlung. Wenn man es besucht, findet man einen dieser Orte mit Industriecharme, die man in München nicht erwartet, aber die es hier natürlich trotzdem gibt: ein großer Hof, in der Mitte eine Halle, deren Längsseiten schon abgerissen wurden, mit Containern darin, aus denen heraus Flohmarkthändler Schuhe, Geschirr und Elektrogeräte verkaufen. Davor mehr Verkaufsstände und ein Imbisswagen. Zwei weitere Hallen, in der einen gibt es gerade einen Antikflohmarkt und einen Obstverkauf. Jemand hat dort Musik angemacht, die über den Platz und bis in das benachbarte, leerstehende Bürogebäude schallt.
Ansonsten ist es friedlich hier, aber eben noch sehr rau. Die aufgerissene Halle soll nach den Plänen von Kollektiv A durch ein dreigeschossiges Wohnhaus für Flüchtlingsfamilien ersetzt werden, mit Platz für etwa 200 Personen. Die drei bestehenden Gebäude werden umgebaut und dann von verschiedensten Einrichtungen genutzt: von einer Sprachschule, einer Kindertagesstätte und einer Zweigstelle des Amts für Migration, einem Veranstalter von türkischen Hochzeiten, Künstlerateliers, einer offenen Werkstatt, einer Markthalle und dem Antikflohmarkt. Das Quartier soll dann ein Ort sein, an dem Menschen zu Hause sind, aber an den auch andere gerne kommen, um dort zu arbeiten, zu feiern oder einzukaufen. Das wäre, wenn es klappt, ein Konzept, das vieles richtig macht.
Und gerade sieht es so aus, als würde es klappen. Benedict kann selbst nicht ganz glauben, wie schnell das Projekt an den Start gegangen ist. Vergangenen September erst hat alles angefangen. München applaudierte da gerade in einem Meer aus Teddybären den Neuankömmlingen am Bahnhof, die Flüchtlingsunterkünfte der Stadt waren überfüllt und Benedict und seine Freundin hörten bei einem Flohmarktbesuch im Münchner Zenith schon von weitem einen Mann wettern: „So kann man diese Menschen doch nicht unterbringen!“ Sie kamen mit ihm ins Gespräch – „Es kann doch nicht sein, dass …“ und „Man müsste doch wirklich mal …“; Smalltalk über Fluchtgründe und Menschenwürde eben. Meist bleibt das ja folgenlos. Trotzdem beschlossen die Drei spontan, irgendwas zu dem Thema zu machen. Was genau? Erst mal keine Ahnung.
Es geht um Wohnraum für Flüchtlinge, die keine mehr sein müssen – sondern bleiben können
„Der sah ganz normal aus“, sagt Benedict heute, „nicht wie ein großer Investor oder so. Ich dachte, wir machen vielleicht ein kleines Magazin zusammen. Und zwei Wochen später ruft der mich an und sagt: ‚Komm mal vorbei, ich sitz hier mit der Stadt!’“ Denn der Mann ist Wolfgang Nöth, Münchner Gastronom und Clubbetreiber – dem auch der Zenith-Flohmarkt gehört und den man in München den „Hallenkönig“ nennt. Nöth weiß, wie man alte Gebäude aufwertet und ein brachliegendes Gelände bespielt, das hat er zum Beispiel mit dem Zenith bewiesen, mit dem Kunstpark Ost oder dem Kulturzentrum München-Riem. Und Nöth hatte nun auch das Grundstück in Johanneskirchen entdeckt und beschlossen, man müsse die Gebäude für einen neuen Zweck nutzen. Einen guten. Die Stadt und das Amt für Migration stimmten zu, Nöth wurde der Investor, Benedict und seine Kollegen wurden als Architekten beauftragt. Und seitdem läuft’s.
Es geht bei diesem Projekt um eine sehr aktuelle Herausforderung: Wohnraum für Flüchtlinge. Genauer: Wohnraum für Flüchtlinge, die keine mehr sein müssen, sondern bleiben können. Die nicht mehr passiv untergebracht werden, sondern aktiv wohnen dürfen. Das wird vermutlich bei der Hälfte der Flüchtlinge, die 2015 gekommen sind, der Fall sein: Etwa 500.000 Menschen dürfen und müssen sich dann eine eigene Wohnung suchen, sobald sie einen Aufenthaltsstatus haben – und das auf dem ohnehin schon extrem angespannten Wohnungsmarkt. Laut Bundesbauministerium werden in Deutschland in Zukunft jährlich 350.000 neue Wohnungen gebraucht. 100.000 mehr als derzeit pro Jahr entstehen.
Wie schafft man das? Wie sollen diese Wohnungen aussehen und wo sollen sie gebaut werden, damit Integration funktionieren kann und damit die Menschen sich dort wirklich zu Hause fühlen? Und wie wird das alles am Ende unser Land und unsere Städte verändern? Darüber denken sie gerade im ganzen Land nach, an den Unis, in den Städten und Kommunen, im Bundesbauministerium und in den Architekturbüros. Und sie jonglieren dabei mit sehr vielen Widersprüchen. Zum einen wird eine Masse an Wohnungen gebraucht, zum anderen wünschen sich alle, dass keine Ghettos entstehen. Zum einen soll es schnell gehen, zum anderen wird davor gewarnt, dass nichts dauerhafter sei als das Provisorium, und man deshalb langfristige Lösungen brauche. Zum einen sollen diese Lösungen unkompliziert sein, zum anderen muss man sehr viele gesetzliche Bestimmungen beachten. Und immer so weiter.
Das wären die schlechten Nachrichten. Die guten: Architekten haben dafür gerade extrem viel kreativen Output. Aus einem Entwurfsprojekt an der Universität Hannover zum Beispiel ist das Buch „Refugees Welcome“ entstanden: fast 300 Seiten mit Ideen, wie und wo Menschen wohnen könnten – in umgebauten Parkhäusern, auf dem Wasser, in Schrebergartensiedlungen. Oder die Initiative „Wohnraum für alle“, die zu einer Ideenwerkstatt aufgerufen, Entwürfe gesammelt und ein Netzwerk gegründet hat, um Architekten, Bauherren und Grundstücke zusammenzuführen. Oder das Projekt „Home not shelter“, für das Studierende verschiedener Hochschulen Pläne für gemeinsames Wohnen von Flüchtlingen und Studenten eingereicht haben. Sogar der deutsche Pavillon auf der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig wird unter dem Motto „Making Heimat“ zum Thema Flüchtlinge, Wohnen und Integration gestaltet.
Von Unis und Hochschulen gab es in den vergangenen Monaten außerdem mehr als zwanzig studentische Entwurfsprojekte. Auf der Tagung „Flucht nach Vorne“ der Bundesstiftung Baukultur und des Bunds deutscher Architekten, die im März in München stattfand und bei der über integrierendes Planen und Bauen für Geflüchtete diskutiert wurde, wurde der Architekten-Nachwuchs ebenfalls mehrfach für seine innovativen Zugänge zum Thema gelobt. Es sind also vor allem junge Architekten wie Benedict und seine Kollegen, die mutig und kreativ sind und eine Idee davon haben, wie wir in Zukunft zusammenleben könnten oder sollten.
"Wir verlangen von den Flüchtlingen dauernd, dass sie auf uns zugehen. Aber kennen Sie ihre Nachbarn zwei Häuser weiter?"
„Ideen gibt es genug“, sagt auch Professor Jürgen Friedrichs, „so viele großartige Vorschläge von Büros und Studierenden! Jetzt muss man dafür nur noch Investoren finden.“ Friedrichs ist emeritierter Professor für Soziologie an der Uni Köln. Spezialgebiet: Stadtsoziologie. Aktuelles Forschungsgebiet: Flüchtlingsunterbringung. Friedrichs lobt die kreative Auseinandersetzung mit dem Thema vor allem auch deswegen, weil er strikt gegen Großwohnsiedlungen ist, also Hochhäuser am Stadtrand, die schnell und vor allem kostengünstig hochgezogen werden. Er hält sie für einen großen planerischen Fehler. „Architektur darf nicht diskriminieren“, sagt er, „sondern muss sich in die Umgebung einpassen und so hochwertig sein, dass niemand draufzeigt und sagt: ‚Ach, guck mal, da wohnen die Asylanten.’“
Und wenn Architektur nicht diskriminiert, dann integriert sie auch besser. Viele Architekten versuchen, die Integration gleich mit in neue Gebäude und deren Umgebung hinein zu planen, indem es dort Räume oder Flächen gibt, die von allen Bewohnern gemeinsam genutzt werden sollen. Jürgen Friedrichs sagt, die soziale Mischung sei „der Traum eines jeden Planers“. Aber: „Das klappt leider nur ganz selten, weil Menschen aus unterschiedlichen Milieus eben auch verschiedene Tagesabläufe, Wege und Interessen haben.“ Darum sei es wichtig, dass es in der Umgebung Institutionen gibt, durch die die Wege und Interessen der unterschiedlichen Gruppen zusammenfallen. „Und das tun sie am ehesten in Einrichtungen wie Schulen oder Kitas, beim Sport, in einer politischen Gruppe oder einer Gewerkschaft.“
Man könnte sagen: Man muss die Menschen zu ihrem Glück zwingen. Beziehungsweise zur Mischung zwingen. „Wir verlangen von den Flüchtlingen dauernd, dass sie auf uns zugehen und sich integrieren“, sagt Friedrichs und fragt dann: „Aber kennen Sie ihre Nachbarn zwei Häuser weiter? Doch auch nur, wenn Sie irgendein gemeinsames Interesse haben.“
Statt also immer nur von den Flüchtlingen zu verlangen, auf uns zuzugehen, sollten wir einfach mal auf sie zugehen. Und sie dann zum Beispiel auch fragen, wie sie wohnen und leben wollen. Benedict und seine Kollegen haben genau das getan und für ihr Projekt erst mal eine Bedarfsanalyse gemacht. Etwa 90 Gespräche mit Bewohnern in Münchner Flüchtlingsunterkünften haben sie geführt. Und dabei erstaunlich einfache Fragen gestellt: „Was macht Sie traurig?“ Was glücklich? „Was ist Ihr wertvollster Besitz?“ „Was erwarten Sie von Ihrer neuen Heimat?“ „Wie sähe Ihr Wunsch-Zuhause in München aus?“
Die Antworten waren ebenso einfach: Die Menschen sind traurig über den Verlust ihrer Heimat. Familie und Freunde machen sie glücklich. Sie wünschen sich ein Zuhause in einer sicheren, lebendigen Umgebung, mit Privatsphäre, aber auch mit einem Raum, in dem man mit anderen zusammenkommen kann.
Eigentlich ist es ja wirklich ganz einfach. So, wie wir alle wohnen wollen, sollen alle wohnen können. Klar muss man kulturelle Unterschiede bedenken und beim Planen neben einem Architekten und Bauherren vielleicht auch mal einen Ethnologen mit einbeziehen. Aber am Ende gilt, was Benedict dann doch noch zu dem Begriff sagt, der ihm so bitter aufstößt: „Menschenwürdiges Wohnen fängt da an, wo Menschen zusammenkommen, aber sich auch zurückziehen können. Ich würde es einfach normales Wohnen nennen.“
Natürlich gibt es eine Facebook-Gruppe gegen das Flüchtlingswohnheim. Das ist ja mittlerweile fast Tradition
Die Vision ist so simpel wie sie schön ist. Nur: Die Realität steht ihr leider manchmal etwas im Weg. Für jedes Projekt muss nicht nur ein Investor gefunden werden, es müssen auch unzählige Anträge gestellt und Widerstände überwunden werden. Auf dem Areal in Münchens Nordosten ist der Start für die Ateliers und die Veranstaltungshalle für den kommenden Herbst geplant, und für das neue Wohnhaus gibt es eine Baugenehmigung – aber jetzt wurden die Mietverhandlungen mit der Stadt wieder neu aufgenommen und können sich noch einige Monate hinziehen. Benedict und seine Kollegen haben mit dem Üblichen zu kämpfen: viel Bürokratie, vor allem, aber auch mit den bekannten Sorgen und dem Widerstand aus der Nachbarschaft. Denn dort sind nicht alle von der Idee eines Flüchtlingswohnheims begeistert und waren zum Teil schon auf dem Gelände, um sich zu beschweren. Eine Facebook-Gruppe gegen das Wohnheim wurde natürlich auch gegründet. Mittlerweile hat das ja fast Tradition.
Das ändert aber nichts daran, dass wir Wohnraum brauchen. Und allen bürokratischen Hürden und verstimmten Nachbarn zum Trotz: Er muss und er wird entstehen. In den kommenden Monaten und Jahren werden sicher ambitionierte Projekte umgesetzt, und sicher werden auch einfachere Lösungen gebaut. Und einige von denen werden auch irgendwem irgendwo weh tun.
Man könnte also einen Ausblick wagen und fragen: Wie sehen unsere Städte dann in zehn Jahren aus? Professor Friedrichs zählt erst mal einige negative Faktoren auf: noch mehr Flächenknappheit, noch höhere Mieten, noch stärkeres regionales Ungleichgewicht. Denn die Städte werden die Zentren der Migration bleiben – vor allem auch weil man Flüchtlinge nicht dort hinschicken sollte, wo es keine Jobs gibt, also aufs Land, nur, weil dort Platz ist. Friedrichs räumt ein, dass wir darum vielleicht auch wieder mehr über Hochhäuser nachdenken müssen – „aber in der Stadt, nicht außerhalb!“ Und egal, wie viel die Planer versuchen, zu mischen – es wird dann wohl auch vermehrt ethnisch homogene Viertel geben. Quartiere, in denen fast nur Syrer leben oder fast nur Afghanen. Denn Menschen leben gerne dort, wo andere mit den gleichen Gewohnheiten und Traditionen leben.
Friedrichs ist sich sicher, dass unsere Städte insgesamt sehr viel multikultureller werden: „Wir stehen ja erst am Anfang der Migration. Und es wird mit Sicherheit noch schwierige kulturelle Auseinandersetzungen geben.“ Es steht uns also Arbeit bevor, vielleicht auch Aufruhr, sicher wohl Aufregung. Aber es gibt ja auch positive Aufregung. Multikulturelle Städte sind immerhin auch die Städte, in denen besonders viele Menschen leben wollen. Die am bereicherndsten und am spannendsten sind. In denen es Dinge zu Essen gibt, die man vorher nie geschmeckt hat, Sprachen gesprochen werden, die man nicht versteht. In denen es in jedem Viertel anders riecht und sich anders anhört. In denen man seine Berührungsängste verliert. In Berlin schwört man ja auch auf Kreuzberg und Neukölln. Und ethnisch homogene Viertel wie China Town und Little Italy stehen im New-York-Reiseführer als Sehenswürdigkeiten. Wichtig ist, dass diese Quartiere Teil der Städte sind, dass es dort Platz für Mikroökonomie gibt, für Gastronomie und andere Gewerbe, für Stadtteilfeste und Kulturangebote. Damit alle dort gerne hinkommen.
Es wird also enger werden, voller, dichter, näher. Aber auch vielfältiger und aufregender und lebendiger. Lebendig wünscht sich Benedict auch das neue Münchner Quartier. „Der Antikflohmarkt entsteht ja gerade schon“, sagt er, jetzt wieder gut gelaunt auf der Sofakante. „Und neulich war ich dort und es wuselten ganz viele Menschen da herum. Das war ein tolles Erlebnis. Ich hatte das Gefühl, dass es wirklich klappen könnte!“