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Heimlich auf Haram
„Aus meiner muslimischen Community weiß das niemand, das erzähle ich jetzt nur dir. Oder Freunden, die selber haram (alles, was nach der Scharia verboten ist, Anm. d. Red.) machen“, erklärt mir Khaled grinsend. Khaled ist Ende zwanzig, wohnt in Wien und ist gläubiger Muslim, wie er selbst sagt. Trotzdem hat er Erfahrungen mit Sex, Alkohol und Drogen. Alles Sachen, die laut seiner Religion haram, also verboten sind.
Khaled und ich sind Freunde, wir erzählen uns viel. Er vertraut mir einiges an, deshalb frage ich interessiert, wie er das denn alles mit seinem Glauben vereinbart. „Ich glaube an Himmel und Hölle und an Allah und daran, dass Dinge vorbestimmt sind – dadurch hoffe ich auch, dass meine haram-Aktionen bald aufhören. Aber das ist wie wenn du einem Kind sagst, es soll nicht auf die Herdplatte greifen. Dann greift es erst recht hin“, rechtfertigt Khaled sein „Verhalten“. Das schlechte Gewissen plagt ihn dabei aber jedes Mal.
Vor allem, wenn es um seine Dating-Geschichten mit Frauen geht. Sex vor der Ehe ist im Islam nämlich verboten. „Aber glaub ja nicht, dass nur wir Männer 'die Bösen' sind. Ich hatte mit vier Frauen was, die alle vier Mitglieder Österreichischer Muslimischer Organisationen waren. Zwei davon tragen Kopftuch, und man würde nie von ihnen denken, dass sie so etwas machen würden. Sie haben dabei immer auf meine Verschwiegenheit vertraut, auch wenn ich teilweise mit ihren Brüdern befreundet war“, sagt Khaled. Ich muss ihn an dieser Stelle fragen, ob er nur eine Jungfrau heiraten würde. „Nein! Bist deppat! Wer haram macht, hat es nicht verdient, so zu denken“, kommt wie aus der Kanone geschossen. Aber offen wird über den „haram-Lebensstil“ innerhalb der Community nicht geredet.
Sprich: Untereinander und miteinander wird nicht darüber gesprochen – mit mir als Nicht-Muslima schon. Ich als gebürtige Polin kenne dieses Phänomen von jungen Katholiken, die aus streng gläubigen Elternhäusern kommen, aber irgendwann rebellieren – gegen ihren Glauben, obwohl sie sich als gläubig bezeichnen. Ich habe in meinem Umfeld auch einige gläubige Muslime, die meisten von ihnen leben fromm und so, wie es ihre Religion besagt. Aber genauso beobachte ich auch, dass einige gar nicht so gläubig leben, wie sie nach außen hin tun. Vor mir geben sie im Gegensatz zu ihren Community-Mitgliedern alles zu. Es fällt mir nicht schwer, schnell mehrere Gesprächspartner für den Artikel zu finden. Sie erklären sich bereit, ehrlich und offen mit mir zu sprechen, unter einer Bedingung: Dass ich ihre Anonymität wahre. Deshalb wurden alle Namen in diesem Text geändert.
„Meine muslimischen Freunde wissen gar nichts davon“
Auch Leyla ist ihre Anonymität überaus wichtig, nicht einmal ich kenne ihren echten Namen. Leyla ist Mitte zwanzig, lebt in Wien und stammt aus einer streng religiösen muslimischen Familie. Sie spricht ruhig, gefasst und wirkt sehr reflektiert in dem, was sie erzählt. Leyla ist gläubige Muslima, und versucht so gut wie möglich nach ihrer Religion zu leben. Aber das ist für sie gar nicht so leicht. Bis jetzt hatte Leyla drei längere Beziehungen, mit dem Sex hat auch sie nicht bis zur Ehe gewartet. „Heirat ist etwas extrem Ernstes. Vor allem bei uns Muslimen. Und ich wollte nicht erst heiraten, um mit meinem Freund zu schlafen. Dafür war ich eben schon mit 21 bereit, und nicht erst mit 27 oder später.“
Leyla hat bei ihrem ersten Mal nicht geblutet, und ihr damaliger Freund hat ihr nicht geglaubt, dass sie davor noch Jungfrau war – was allerdings gestimmt hat. „Das hat mich richtig wütend gemacht, vor allem, weil das schlimm für ihn war. Er hat ja genauso gegen eine „Regel“ verstoßen wie ich. Wir leben im 21. Jahrhundert, und jeder sollte wissen, dass Sex Frauen und Männern gleichermaßen Spaß machen darf“, sagt sie. Leyla ist heute nicht mehr mit ihrem damaligen Freund zusammen. „Ich finde nicht, dass ich einen Fehler gemacht habe. Der Fehler wäre gewesen, ihn zu heiraten. Ich bin stolz drauf, dass ich diese Entscheidung so für mich selbst treffen konnte“, sagt die junge Frau.
Aber nicht nur Sex vor der Ehe steht auf der Liste von Leylas „Taten“. „Ich war einmal eine längere Zeit mit einer gemischten Gruppe unterwegs, es waren auch Nicht-Muslime dabei. Dort habe ich dann auch zum ersten Mal Alkohol probiert und auch an einem Joint gezogen. Einfach aus Neugier.“ Ich frage sie, ob sie irgendwas davon bereut. „Ja schon, aber was passiert ist, ist passiert.“ Es sei auch schwer, Grenzen zu ziehen. „Dass ich mit meinem Freund, den ich vorhatte zu heiraten, geschlafen habe, ist eine Sache. Dass ich Weißwein und Gras probiert habe auch. Aber dann kommen so Sachen wie One Night Stands, von denen ich auch schon ein paar hatte, die allerdings nicht mit Muslimen – und das sind dann die Momente, wo ich mit mir selbst überhaupt nicht mehr zufrieden bin. Weil es auch keiner von mir erwartet“, sagt Leyla in einem ernsten Ton.
Vor ihren muslimischen Freunden isst sie nicht einmal Schokolade, in der Alkohol drinnen ist. „Sie würden diese ganzen Sachen auch nie von mir erwarten. Ich bewundere alle, die so stark in ihrem Glauben sind, dass sie auf diese Neugier verzichten können. Ich merke auch, dass ich ungewollt viel über all das nachdenke, und es ist einfach ein Scheißgefühl, wenn es niemand von dir erwartet, du aber in Wirklichkeit alles schon gemacht hast.“
„Wenn es jemand herausfindet, dann ist es vorbei“
Ähnlich geht es dem 22-jährigen Tarek. Er hat ägyptische Wurzeln, seine Eltern sind streng gläubig. Auch er ist Muslim. Auch er hat schon Erfahrungen mit Alkohol, Gras und Sex gemacht. „Aber das bleibt alles in einem vertrauten Rahmen, deshalb habe ich auch kein zu großes schlechtes Gewissen“, sagt er. Seine muslimischen Freunde, nicht einmal die engsten, wissen nicht, wie er eigentlich lebt. Ich merke bei ihm schnell, dass er in ausgewählten Kreisen aber locker wird und sich die „westliche“ Lebensweise aneignet. Mir scheint auch, als hätten viele meiner Gesprächspartner mehr Angst vor ihren Eltern, als vor Allah. Dass sie sündigen, ist ihnen ja bewusst. Aber die Furcht vor der Community ist größer als ihr Glaube.
„Du verstehst das nicht. Unsere Community ist groß, jeder weiß alles über jeden. Da geht es nicht mehr um den Glauben, sondern um die Angst, dass es wer herausfinden könnte. Und dann wäre es für mich vorbei. Meine Eltern würden nie wieder mit mir reden“, erklärt mir Amir. Amir ist 26, groß, durchtrainiert und hat funkelnd grüne Augen. Er studiert Architektur an der Uni Wien. Er betet fünfmal am Tag, geht freitags in die Moschee und postet auf Facebook ständig neue Islam-Zitate und ist nach außen hin auch der Vorzeigemoslem. „Meine Freunde glauben, ich lebe wie ein Hodscha“, lacht er. „Ich will ja auch so leben, wie es sich gehört. Aber wenn du in Wien aufwächst, dann ist das halt schwer, sich an all die Regeln zu halten. Natürlich haben mir schon Mädchen gefallen und ich ihnen, aber ich habe noch nie etwas mit einer Muslima angefangen, sondern nur mit Österreicherinnen.“
„Wenn keiner zuschaut, ist es nicht haram“
„Unsere“ Mädchen werden so erzogen, dass sie brav und keusch sein sollen – sollte ich ja eigentlich auch“, sagt er und beißt sich in die Lippe. „Aber weißt eh, wenn keiner zuschaut, dann ist es nicht haram“, fügt er mit einem nervösen Lächeln hinzu. Ich frage ihn, ob er mit seinen muslimischen Freundinnen auch so offen sprechen würde, wie mit mir. „Nein, vor unseren Frauen niemals. Dann haben sie keinen Respekt mehr vor mir und meine ganze Ehre ist weg. Und Respekt ist bei uns extrem wichtig.“ Ich will wissen, was das dann für einen Unterschied macht, wenn er vor mir, ebenfalls einer Frau, über Aufrisse und Alkoholabstürze redet. „Nein, bei dir ist es egal. Du bist ja keine Muslima. Außerdem kann man mit dir über alles reden, wie mit einem Freund“, bekomme ich zu hören. Ich weiß an dieser Stelle nicht, ob ich das seltsam finden soll, oder ob das eine Art Kompliment für mich ist. Amir redet mit mir wirklich wie mit einem Kumpel. „Ich könnte dir Geschichten erzählen, die würdest du nicht packen. Eigentlich sind die meisten muslimischen Jungs, die ich kenne, irgendwo Heuchler. Die einen, die sowieso schon alles machen, was verboten ist, und dann gibt es die, die auf halal tun und mit 25 noch nie eine Frau geküsst haben – aber wenn man dann über Pornos spricht, sind sie die großen Kenner. Außerdem verurteilen sie andere für Dinge, die sie dann eh selbst tun“, zuckt er mit den Schultern.
Außen halal, innen haram
„Aus muslimischer Sicht bin ich wohl schon sehr früh auf die schiefe Bahn geraten“, sagt der 26-jährige Abdi. Meine Mutter hat mich mal mit einem Joint erwischt – aber meiner Meinung nach ist kiffen nicht haram.“ Auch er ist Ägypter, Moslem – und hat, wie er selbst so schön sagt „seine Sexpartnerinnen öfter als Unterhosen gewechselt.“ Doch nicht nur Frauen stehen auf der Liste seiner Haram-Taten. „Eine Zeit lang fand man mich in den angesagtesten Clubs Wiens, immer mit Flasche am Tisch und allem Drum und Dran. Ich verbrachte auch viel Zeit in Casinos oder Spielautomaten.“ Als Teenager fing er auch an zu kiffen, seitdem ist das Gras ein großer Bestandteil seines Lebens. Bis auf das eine Mal Erwischtwerden haben seine Eltern nicht die geringste Ahnung von dem, was sich in seinem Leben so abgespielt hat. Seine muslimischen Freunde, die von seinem Lebensstil erfahren haben, haben sich von ihm abgewandt. Das gab Abdi zu denken. Er kennt ja die Werte und Vorstellungen, die ihm seine Eltern vorgelebt haben. „Ich kann mich mit dem Islam als meine Glaubensrichtung voll identifizieren, und ich glaube auch, dass ich bald wieder auf den rechten Weg gerate“, sagt er.
Regeln selbst auferlegen
Abdis Aussage fasst das zusammen, was alle meine Gesprächspartner irgendwie verkörpern: Sie wollen ja einerseits „gute“ Muslime sein – andererseits scheinen sie hin und hergerissen zwischen halal und haram, zwischen ihrem Glauben und der Neugier, das Verbotene auszuprobieren. Ihre Eltern und Verwandten sind oft Migranten erster Generation, die nach den „alten“ Regeln leben, und das so gut wie möglich an ihre Kinder weitergeben wollen – die Kinder wollen das auch, aber nicht alle tun sich leicht damit – wie die. Sie schweben dann irgendwo zwischen ihrer Religion und der „westlichen“ Lebensweise. – Sie sind zwar in Wien aufgewachsen, zur Schule gegangen, studieren und arbeiten jetzt hier - aber sie sind hier eben auch in den Communities aufgewachsen. Durch diesen Zwiespalt interpretieren sie die Regeln für sich neu. Eine befreundete gläubige Muslima erzählt mir, dass viele junge Muslime die Gebote ihrer Religion „modernisieren“. Zum Beispiel wenn es um Sex vor der Ehe geht: Früher war die Ehe die einzige anerkannte Form einer Beziehung. Heute leben viele junge Muslime in Langzeitbeziehungen, sehen das als Vorstufe der Ehe und schlafen dann auch miteinander.
Die jungen Muslime entscheiden also innerhalb ihrer Religion für sich, was erlaubt und was verboten ist. Untereinander wird das alles jedoch totgeschwiegen, man verurteilt andere für Dinge, die man selbst tut. Und irgendwie scheint sich das Ganze ständig im Kreis zu drehen, denn die selbst auferlegten Regeln gelten doch sowieso nur im Geheimen – weil „wenn keiner zuschaut, dann ist es nicht haram.“
*Unsere Redaktion kooperiert mit biber – was wir bei JETZT ziemlich leiwand finden. Als einziges österreichisches Magazin berichtet biber direkt aus der multiethnischen Community heraus – und zeigt damit jene unbekannten, spannenden und scharfen Facetten Wiens, die bisher in keiner deutschsprachigen Zeitschrift zu sehen waren. biber lobt, attackiert, kritisiert, thematisiert. Denn biber ist "mit scharf". Für ihre Leserinnen und Leser ist biber nicht nur ein Nagetier. Es bedeutet auf türkisch "Pfefferoni" und auf serbokroatisch "Pfeffer" und hat so in allen Sprachen ihres Zielpublikums eine Bedeutung.
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Dieser Text erschien erstmals am 05.01.2018 und wurde am 31.01.2021 nochmals aktualisiert.