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Eine Muslima legt ihr Kopftuch ab
Gül zupft sich ihr graues Kopftuch zurecht. Es ist farblich abgestimmt zu ihrem smaragdgrünen Mantel und der zugeknöpften weißen Bluse. Sie wählt jedes Wort sorgfältig aus und lässt sich mit ihren Antworten Zeit. Heute redet Gül leise, sie wirkt aufgekratzter als sonst. „Ich werde das Kopftuch endgültig ablegen“, verkündet die Türkin nach kurzem Smalltalk.
Vor etwa zwei Jahren treffe ich die 30-Jährige das erste Mal. Damals wollte sie sich mir anvertrauen, weil sie eine Bezugsperson suchte, die nachvollziehen konnte, wie es war, wenn man zwischen zwei Welten steckte. Durch meine Texte, in denen ich oft über meine Identitätsfindung als Migrantin schreibe, glaubte sie diesen Menschen in mir gefunden zu haben. Wir trafen uns von da an regelmäßig zum Gespräch. „Ich habe mich in eine Frau verliebt“, gestand sie mir bei unserem ersten Treffen. Ihr Blick war schockiert, als würde sie diese Worte das erste Mal laut aussprechen. Als ich sie fragte, ob sie das Kopftuch je ablegen würde, antwortete sie mit einer plötzlichen Sicherheit in ihrer Stimme: „Nein, niemals.“ Seit diesem Treffen verändert sich ihre Ansicht zu dem Thema zunehmend und ich verfolge ihre Einstellung zum Kopftuch und zu ihrer Homosexualität als stille Zuseherin über die Jahre mit.
Keine religiöse Überzeugung, sondern Tradition
Gül wächst in einem streng konservativen Haushalt in Oberösterreich auf. Ihre Mutter kümmert sich um Gül und ihre Geschwister, der Vater spielt eine Nebenrolle in ihrer Kindheit und Jugend. Gül ist ein zurückhaltendes Kind. Sie verbringt ihre Freizeit ausschließlich in der türkischen Community. Ihr Vater ist Erdogan-Fanatiker, wie sie sagt. Als Vorbilder dienen ihre älteren Schwestern und Cousinen. Mit 13 setzt sie das erste Mal ein Kopftuch auf, eine wirklich bewusst getroffene Entscheidung war das damals aber nicht, meint sie. Ihre Eltern und sie führen niemals ein Gespräch darüber, ob und wann sie sich bedecken sollte. „Mit dem Wechsel in die Oberstufe war es selbstverständlich, dass ich ein Kopftuch trage“, erinnert sie sich. „Befohlen hat es mir niemand, es wurde einfach von mir erwartet.“ 17 Jahre später weiß Gül, dass sie sich in Wahrheit nie aus religiöser Überzeugung für das Kopftuch entschieden hat. Tradition und der Wunsch dazuzugehören, das waren ihre Beweggründe.
Auch in ihrer Moschee bedecken sich alle Mädchen, eine Art Gruppenzwang entsteht. Lange Zeit hinterfragt Gül diese Selbstverständlichkeit nicht. Sie findet nach Abschluss der Matura und einem kurzen Studium einen Job in einem Großraum-Büro in Wien. Dort lernt sie ihre jetzige Freundin kennen. Die beiden entwickeln trotz der vielen Unterschiede eine innige Beziehung. Im Gegensatz zu Gül geht ihre Freundin, die Österreicherin ist, sehr früh offen mit ihrer Sexualität um. Gül sagt, ihre Beziehung hätte es ihr ermöglicht, ihr Leben aus einer völlig neuen Perspektive zu sehen. Erst durch dieses neue Kapitel in ihrem Leben befasst sich Gül mit der Frage, warum sie ihr Haar eigentlich verdeckt.
Eine Schande für die Familie
Spulen wir zwei Jahre zurück. Güls Schwester schnüffelt in ihren Sachen, als diese zu Besuch ist und findet Nachrichten auf ihrem Handy, die zeigen, dass ihre Freundin und sie keine rein platonische Beziehung pflegen. Daraufhin sperrt ihre Familie Gül zu Hause ein. Sie verlangen von ihr, zurück nach Oberösterreich zu ziehen, ihren Job aufzugeben und den Kontakt zu ihrer Partnerin zu beenden. Gül verlässt daraufhin ihr Zuhause, beim Abschied schreit ihre Mutter ihr nach, dass sie eine Schande für die Familie sei. Mit ihrer Entscheidung zu gehen, verlässt sie nicht nur ihr Elternhaus, sondern auch ihr bisheriges Leben.
Gül hat nun kein Zuhause. Vorübergehend schläft sie in einem Billighotel, über Arbeitskolleginnen findet sie schlussendlich eine WG. Seitdem hat sie kaum Kontakt zu ihrer Familie. Ihre Homosexualität wird im Bekanntenkreis totgeschwiegen. Offiziell lebt sie wegen ihrer Arbeit und einer im Vergleich zur Wahrheit harmlosen Auseinandersetzung mit ihrem Vater in einer Frauen-WG in Wien. Finden Hochzeiten oder andere Festlichkeiten - sogenannte „Pflichttermine“ - statt, fährt sie nach Oberösterreich und tut so, als wäre alles in Ordnung. Mittlerweile lebt Gül mit ihrer Freundin zusammen. Es fällt ihr immer schwerer ihr Kopftuch zu begründen. „Mein Leben lang war es mir wichtiger, wie ich aussehe und ob ich eh nicht zu viel von mir zeige“, blickt sie zurück. „Dabei gibt es viel wichtigere Gebote im Koran als das Kopftuch.“ Warum also dem Ganzen so einen wichtigen Stellenwert geben? „Weil es mein gesamtes Umfeld getan hat.“ Dieses Umfeld hat sie hinter sich gelassen, sie fühlt sich als Kopftuchträgerin nicht mehr wohl. In erster Linie nicht wegen der Reaktionen ihrer österreichischen Mitbürger, ihre eigene Community ist die, die ihr Magenschmerzen bereitet.
Seit ihrem Outing begleitet Gül die ständige Angst, andere Muslime könnten ihr Verhalten verurteilen. „Wenn ich mit der Familie meiner Freundin essen gehe und ihren Vater bei der Begrüßung umarme, habe ich Angst, dass mich ein anderer Muslim dabei sehen könnte.“ Gül ist paranoid. An jeder Ecke wittert sie Bekannte, die sie auf offener Straße beschimpfen könnten, weil sie mit ihrer Freundin unterwegs ist. Sie muss vorsichtig sein, denn noch immer weiß der Großteil ihrer Familie nicht, dass sie lesbisch ist. Immer wieder erntet sie misstrauische Blicke von anderen Musliminnen, wenn sie mit ihrer Freundin unterwegs ist. Ihre Sorge ist auch nicht ganz unbegründet: „Es ist schon das ein oder andere Mal passiert, dass Muslime meine Freundin und mich übelst beleidigt haben.“ Wenn sie bei unseren Treffen von solchen verbalen Attacken erzählt, wirkt sie aufgebrachter als sonst. Von Mal zu Mal merke ich, wie ihr Wohlbefinden unter der Situation leidet. Aber mir fällt auch auf, dass sie ihre Erfahrungen selbstbewusster erzählt, ihre Mimik und Gestik hat sich mit der Zeit verändert. Gül blüht auf, ihr Selbstvertrauen wächst - nur das Kopftuch scheint sie zu stören. „Ich habe dieses Unbehagen einfach satt.“
Wann ist man eine gute Muslima?
Trotz der negativen Erlebnisse weiß Gül, dass ihre Unsicherheit zum Teil irrational ist und auf Vorurteilen basiert. „Wenn ich unsere Hunde spazieren führe, meide ich Gruppen von türkischen Männern. Was werden die wohl denken, wenn sie eine bedeckte Frau mit zwei Kampfhunden sehen?“, fragt sie sich dann. Zudem störe sie die Politisierung des Kopftuchs. Ohne Bedeckung könne niemand auf den ersten Blick erkennen, dass sie Muslima sei, das gäbe ihr enorm viel Freiheit. „Das Kopftuch soll ja eigentlich vor Blicken schützen, ich komme mir aber beobachtet vor, wenn ich es trage“, erzählt sie. Vor allem dann, wenn sie Dinge tut, die sich für eine Muslima „nicht gehören“, zum Beispiel mit Menschen an einem Tisch zu sitzen, die Bier trinken, oder mit Männern zu reden, die nicht mit ihr verwandt sind.
Immer wieder beschäftigt sie sich mit der Frage, ob das Kopftuch wirklich sein muss und welche alltäglichen Veränderungen das Ablegen mit sich bringen würde. So war sie beispielsweise noch nie beim Friseur, ihre Haare hat immer ihre große Schwester geschnitten. „Ich weiß gar nicht, wie das ist, wenn einem eine fremde Person die Haare wäscht“, sagt sie lachend. „Abends eine Bar besucht habe ich auch noch nie.“ Schließlich spielt sie Anfang dieses Jahres mit dem Gedanken das Kopftuch abzulegen, es lasse sich nicht mehr mit ihrem Lebensstil vereinen. „Ich habe das Gefühl das Kopftuch schränkt mich nicht nur in meinem Alltag ein, sondern auch in meinem Glauben“, sagt Gül bei einem unserer letzten Treffen. „Wenn ich es ablege, hoffe ich darauf, zurück zu meiner Religion zu finden.“ Ihre neue Lebensweise mache sie aber nicht zu einer weniger gläubigen Muslima. Weder könne noch irgendjemand anderer den Glauben eines Menschen bewerten. „Nur einer kann sagen, wer ein guter Muslim ist.“
Ein neues Leben
In den letzten Monaten hat es Gül schon ein paar Mal gewagt das Haus ohne Kopftuch zu verlassen. Zuerst mit Mütze und nur um den Müll rauszubringen, aber schon das Mal darauf spaziert sie in den gegenüberliegenden Park. „Das war so ein befreiendes Gefühl, ich kann es gar nicht in Worte fassen.“ Demnächst hat sie vor das Kopftuch endgültig abzulegen. „Seit ich 13 bin, halte ich mich an diese Regeln“, gibt sie zu bedenken. „Mit dem Ablegen des Kopftuchs beginne ich ein neues Leben.“ Ihre Freundin hat sie nie zu dieser Entscheidung gedrängt, obwohl sie nicht religiös ist. „Wir haben nur einmal darüber gesprochen, dass sie es falsch findet, dass sich Frauen verdecken müssen, aber sonst hat sie sich nie in diese Angelegenheit gemischt.“ Was sie als Erstes tun wird, wenn sie das Kopftuch ablegt? „Zum Friseur gehen“, lacht Gül. „Und wenn wir uns das nächste Mal treffen, kannst du meine Haare bestaunen.“
* Name von der Redaktion geändert.
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals am 5.4.2017 und wurde am 28.2.2021 nochmals aktualisiert.
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