Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Bei diesem Startup müssen Praktikanten nicht kommen und erhalten trotzdem Gehalt

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Dass Jannis kein gewöhnlicher Praktikant ist, merkt man schon am Redeanteil. Jannis 60 Prozent, Christian, der Pressesprecher, eher 40. Dabei ist Christian elf Jahre älter als Jannis, viel länger im Unternehmen und hat im Gegensatz zu dem 19-Jährigen einen Studienabschluss und Arbeitserfahrung. Jannis ist hingegen, nun ja: Abiturient und Praktikant. Auch wenn er diese Bezeichnung selbst ablehnt: „Das P-Wort wird von der Gesellschaft doch nur noch mit Zwang, Ausbeutungsstrukturen und ‚Ich muss für meinen Lebenslauf hier sein‘ verbunden“, sagt Jannis und beugt sich ein Stück auf dem Tisch nach vorne, als würde er gleich etwas sehr Konspiratives sagen. „Aber ich, ich bin hier, weil ich das möchte. Bedingungslos eben. Ich musste übrigens auch noch nie Kaffee kochen“, sagt Jannis und schiebt hinterher: „Und die Post, die bringt Christian weg.“ Ach ja, Jannis verdient 1000 Euro monatlich. Bei Christian ist es zwar mehr, aber nicht sehr viel. 
Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Jannis Haare sind grün gefärbt, sein rechter Arm hängt voller Festivalbändchen. Er sitzt in einem klassischen Berliner-Startup-Konferenzraum. Abgeriebenes weißes Holz, viele Post-its und mit Edding vollgeschriebene Fenster. Das Unternehmen, in dem er und Christian arbeiten, existiert seit Juli 2014, hat elf Mitarbeiter und heißt „Mein Grundeinkommen“ - und bevor jetzt das kollektive Gähnen über idealistische Startups aus Berlin losgeht: Über dieses Stadium ist „Mein Grundeinkommen“ hinaus. 15.000 Menschen halten das Projekt mit ihren regelmäßigen Spenden am Laufen, 2016 wurde das Konzept zum ersten Mal in den USA nachgeahmt.

Die Idee dahinter ist radikal:

Gründer Michael Bohmeyer, 31, wollte herausfinden was passiert, wenn man Menschen ein Jahr lang jeden Monat ein Grundeinkommen von 1000 Euro zukommen lässt - und das bedingungslos. Das Geld wird über die Crowd gesammelt und dann verlost. Dabei darf jeder, egal ob arm oder reich, mitmachen und mit dem erhaltenen Grundeinkommen tun, was er möchte. Dass die Idee viele Menschen anspricht, zeigen auch die Zahlen: 33 Grundeinkommen à 12.000 Euro wurden bereits verlost, mittlerweile sind 240.000 Menschen für die Verlosungen registriert. Aber was passiert mit einem Menschen nach so einem Gewinn? Wird der automatisch faul?

„Ein Großteil der Gewinnerinnen und Gewinner geht weiterhin ihrer alten Tätigkeit nach“, sagt Pressesprecher Christian. Und dass ihm nur eine Person einfallen würde, die durch das Grundeinkommen träge geworden sei. Ansonsten erzählt er Geschichten von Menschen, die mit dem Geld eine neue Ausbildung anfangen, Eiscafés eröffnen oder ihre Hochzeit finanzieren. „Wir glauben, dass die Entkoppelung von Arbeit und Geld große Kreativität freisetzt“, sagt Christian. Logisch also, dass auch ein Praktikum in so einem Unternehmen nicht ganz gewöhnlich ablaufen kann.

Das Interessante ist, dass Jannis tatsächlich vier Tage die Woche zwischen zehn und elf im Büro ist und bis zum Abend bleibt.

Tatsächlich funktioniert es so ein bisschen wie „Mein Grundeinkommen“, nur auf drei Monate beschränkt. In Jannis Arbeitsvertrag steht, dass er in dieser Zeit drei Tage die Woche arbeitet, aber das ist pro forma. Denn: Wenn er nicht kommt, gibt es keine Sanktionen. Er erhält auch weiterhin seine 1000 Euro brutto – die Summe hat er selbst zu Praktikumsbeginn als seinen monatlichen Bedarf angegeben und dann auch bekommen. So läuft das bei allen Mitarbeiter von „Mein Grundeinkommen“.

Das Interessante ist, dass Jannis tatsächlich vier Tage die Woche zwischen zehn und elf im Büro ist und bis zum Abend bleibt. „Weil ich hier, im Gegensatz zu anderen Praktika, nicht nur daneben stehe und anderen beim Arbeiten zuschaue, sondern wirklich gebraucht werde“, sagt Jannis. Er durfte sich seine Arbeit von Anfang an selbst aussuchen, arbeitet seitdem vor allem im Social-Media-Team. Zusätzlich hilft er einen Tag die Woche bei „Sanktionsfrei“, das ist ein weiteres Projekt von „Mein Grundeinkommen“, zur Unterstützung von Hartz-IV-Empfängern. Für Jannis funktioniert das Experiment. „Nach dem Abi wusste ich nicht so richtig, was ich studieren soll. Also wollte ich ein Praktikum machen – aber eben eines, bei dem man etwas verändern kann. Am Ende wurde daraus so viel mehr: Ich bin jetzt richtig Teil eines Teams. Es fühlt sich so an, als hätte ich meinen Platz gefunden.“

Jannis ist bereits der dritte bedingungslose Praktikant, auch seine Vorgängerinnen sind regelmäßig erschienen. „Ich kann mich nur an eine Situation erinnern, in der eine Praktikantin wegen eines internen Konflikts nicht kommen wollte. Ist sie dann aber doch, weil der Konflikt offen geklärt werden konnte“, sagt Christian. Sowieso – Kommunikation ist bei „Mein Grundeinkommen“ die Grundlage für alles. Denn auch, wenn das Erscheinen freiwillig ist, gibt es doch Termine, an die man sich halten muss. Allein schon, um das Team nicht hängen zu lassen „Wenn jemand krank ist oder eine Auszeit braucht, haben wir natürlich Verständnis. Aber wenn jemand nicht mehr kommen möchte, möchten wir den Grund dafür herausfinden– und gegebenenfalls etwas daran ändern“, sagt Christian. Dementsprechend haben alle mittlerweile Erfahrung mit Mediation – und mit Selbstausbeutung. Das ist nämlich die andere Seite der Freiwilligkeit: Wer seinen Job primär für die Sache und nicht wegen des Geldes macht, arbeitet oft besonders viel. Auch dort ist Kommunikation dann wichtig, damit die Leute endlich nach Hause gehen. Sowieso, bei „Mein Grundeinkommen“ wird alles ausdiskutiert. Auch, weil die Hierarchien so flach sind. Für introvertierte Menschen ist das vermutlich eher anstrengend.

Jannis Selbstwahrnehmung, hier seinen Platz gefunden zu haben, hat ihn nicht getäuscht. Er wird nach dem Praktikum weiter bei „Sanktionsfrei“ arbeiten, als „richtiger“ Mitarbeiter. Einen inhaltlichen Unterschied macht das nicht. Seine beiden Praktikantenvorgänger sind ebenfalls geblieben. Eine Sache gibt es da allerdings doch, die nicht ganz ins Konzept passte: „Ich musste zu Beginn schon eine Bewerbung abgeben und mich einmal vorstellen“, sagt Jannis. Ganz ohne Bedingungen geht Arbeit eben doch nicht.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert
  • teilen
  • schließen