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Was tut man, wenn ein Familienmitglied Verschwörungsmythen glaubt?
Verschwörungsideologien erleben seit dem Ausbruch des Coronavirus einen neuen Boom. Sei es die neue Weltordnung, eine Biowaffe aus dem Labor oder die pauschale Verharmlosung des Virus – die vermeintlich plausiblen Erklärungen für die Pandemie sind vielseitig und unübersichtlich. Doch was tun, wenn man Anhänger dieser Mythen im engen Familienkreis hat? Ich habe dieses Problem.
Es gibt nur eine Wahrheit und das ist nicht meine
Angefangen hatte alles Mitte März, als sich die Pandemie in Deutschland zuspitzte. Zuerst bekam ich lediglich Nachrichten, dass ich mir keine Sorgen machen und vor allem keine Angst vor dem Virus haben sollte. Doch schon wenige Wochen später folgten einschlägige Videos von bekannten Verschwörungstheoretikern. Darunter waren Youtube-Links von Prof. Bhakdi, Ken Jebsen und Heiko Schrang. Jedes Video sollte mir suggerieren, dass es das Virus nicht gebe und es sich hierbei um eine Verschwörung gegen die Bevölkerung handle.
Mein erster Impuls war es, die Videos auseinanderzunehmen, sie auf Richtigkeit zu überprüfen und Quellen zu checken, falls überhaupt welche angegeben waren. Ich war fest entschlossen, meinem Familienmitglied helfen zu wollen. Also recherchierte ich, erstellte seitenlange Beweise und führte lange Gespräche, um die inhaltlich fehlerhaften Videos zu entkräften. Ich hatte Angst davor, dass sich besagtes Familienmitglied in diesen Mythen verlieren und nicht mehr zugänglich sein würde für belegte wissenschaftliche Erkenntnisse. Aus diesem Grund spreche ich auch nicht von Verschwörungstheorien, sondern von Mythen bzw. Verschwörungserzählungen, da es sich hier, wie Facharzt Sven Steffes-Holländer mir später erklärte, nicht um fundierte Theorien handle.
Mit Sven Steffes-Holländer habe ich auch darüber gesprochen, wie ich mit meinem Familienmitglied am besten umgehen sollte. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie der Chefarzt der Heiligenfeld Klinik in Berlin. „Beim Glauben an Verschwörungsmythen handelt es sich um einen dysfunktionalen Bewältigungsmechanismus“, erklärt mir Steffes-Holländer. Das heißt, dass die meisten Anhänger dieser Mythen unterbewusst die Angst vor Kontrollverlust, Ohnmacht und Unsicherheit kompensieren. Eine geschickte Strategie, die es dem Gläubigen ermögliche, negative Gefühle auszublenden. „Der Anhänger erschafft sich eine Realität, in der er sich von der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung das Virus einzudämmen befreit – zum Beispiel durch das Nichttragen eines Mund-Nasen-Schutzes“, so der Chefarzt.
Darüber hinaus bieten Mythen dieser Art eine Community, die ein Zugehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl hervorrufen, welches sie in anderen Lebensbereichen vermissen. Zusätzlich stärke der Anhänger sein eigenes Selbstbild und Selbstwertgefühl, in dem er durch sein vermeintlich exklusives Expertenwissen einen besonderen Status innerhalb der Gesellschaft erreiche. Es mache ihn überlegen, werte ihn auf.
Je länger die Pandemie andauerte, desto extremer wurden die Videos, die ich bekam. Darauf folgten in regelmäßigen Abständen immer wieder lange Telefonate und Auseinandersetzungen darüber, wer denn recht habe. Gegenseitige Überzeugungsversuche, weshalb man den Medien des jeweils anderen nicht glauben dürfe, spitzten die Situation endgültig zu.
„Ich habe Angst dich zu verlieren!“
Je verzwickter die Situation wurde, desto mehr bekam ich das Gefühl, mein Familienmitglied zu verlieren. Unsere zwischenmenschliche Beziehung entzweite sich. Es schien, als gäbe es außerhalb des leidigen Corona-Streitthemas keine gemeinsame Ebene mehr, auf der man sich hätte unterhalten können. Tränen, Stress und Wut waren das Resultat zweier Personen, die an unterschiedlicheren Enden der Pandemie nicht hätten stehen können.
„Nur, wenn das Familienmitglied das Gefühl der Zugehörigkeit innerhalb der Familie zurückerlangt, kann der Kreislauf des Diskutierens und Streitens unterbrochen werden“, erläutert Steffes-Holländer, als ich mit ihm über diese Situation spreche. Besonders die zwischenmenschliche Ebene zueinander wiederzufinden, sei bei verschärften Fronten der einzige Weg, um langfristig aus der Misere zu kommen. Inklusion statt Exklusion laute die Devise. Steffes-Holländer rät dazu, Verständnis für den familiären Anhänger von Verschwörungsmythen zu haben. Es sei nötig, das Bedürfnis und die Motive zu ergründen, weshalb das Gegenüber Halt in einer für einen selbst unverständlichen Theorie findet. „Erst wenn diese zwischenmenschliche Ebene gegeben ist, kann eine Intervention sinnvoll sein“, betont der Chefarzt.
Ich hatte das erst einmal falsch gemacht: Ich wusste mir nicht mehr zu helfen, sodass ich mein Familienmitglied bat, das Senden solcher Nachrichten zu unterlassen. Ein Schutzmechanismus meinerseits, der nicht auf Begeisterung stieß. Mittlerweile ist die Situation so verfahren, dass wir in gemeinsamen Gesprächen das Thema komplett umgehen müssen. Das hat zur Folge, dass wir nicht nur seltener miteinander sprechen, sondern auch viel unemotionaler und kühler geworden sind. In einer ruhigen Minute fragte ich besagte Person, wie es ihr damit ginge, dass wir uns ständig über Corona-Maßnahmen und die Pandemie im Allgemeinem stritten. „Früher hat es mich mehr belastet, heute ist es mir egaler geworden“, bekam ich als Antwort.
Die eigenen Gefühle nicht außer Acht lassen
Fakt ist, dass starke Meinungsverschiedenheiten, gerade in Bezug auf die Corona-Pandemie, die Familienbindung belasten. Denn das, was der Familienangehörige durch Verschwörungsmythen an Gefühlen vermeide und verdränge, übertrage sich auf die Angehörigen, so der Chefarzt. Während der Anhänger Ängste wie Ohnmacht, Kontrollverlust und Unsicherheit von sich schiebe, leiden die anderen Familienmitglieder unter genau diesen Ängsten, da das Gegenüber nicht mehr greifbar werde. „Es ist nicht außer Acht zu lassen, dass man auch für sich selbst Verantwortung übernehmen muss, um die eigenen Gefühle verarbeiten zu können“, legt mir der Chefarzt nahe. Sei es im Austausch mit der Familie oder durch externe Beratungsstellen. Dennoch stellte der Leiter der Heiligenfeld Klinik noch einmal heraus, dass der Leidensdruck beim Verschwörungsanhänger geringer sei als bei den Familienangehörigen, weshalb die Sorge um sich selbst nicht außer Acht zu lassen sei.
Wenn Gespräche nichts bringen, empfiehlt der Facharzt, Beratungsstellen aufzusuchen, wie etwa SektenInfo NRW, die sich auch mit Betroffenen von Verschwörungserzählungen auseinandersetzen. Darüber hinaus verdeutlicht der Chefarzt, dass sich Verschwörungs-Anhänger selbst für kritische Denker und Überprüfer des Systems hielten. „Diese Position kann man in diesem Fall für sich nutzen und gemeinsam kritisch die Mythen und Quellen überprüfen. Dies sollte jedoch auf einer ernst gemeinten Basis stattfinden, da Hohn und Spott die Haltung des anderen lediglich stärken“, sagt er.
Nach dem Gespräch mit Steffes-Holländer fühle ich mich bestärkt. Auch wenn mir die nahenden Familienfeste ein flaues Gefühl im Magen geben, bin ich nun besser für diese gewappnet. Ich habe mir die Tipps zu Herzen genommen und möchte in Zukunft mehr auf Empathie und Verständnis gegenüber meinem Familienmitglied achten. Ebenso hoffe ich auf familiärer Ebene auf Kooperationsbereitschaft zu stoßen.
Kurz zusammengefasst – so kannst du reagieren, wenn Personen in deinem Umfeld Verschwörungsmythen anhängen:
- Nimm die Person ernst. Es bringt nichts, sich lustig zu machen oder überheblich zu sein.
- Stelle eine emotionale Bindung her. Erst dann sind Gespräche überhaupt möglich.
- Versucht gemeinsam, die Mythen kritisch zu überprüfen.
- Wenn es dir schlecht geht oder sich keine Verbesserung der Situation zeigt, suche dir Hilfe bei spezialisierten Beratungsstellen.
- Achte auf dich selbst. Wenn dir die Diskussionen viel Energie rauben, ist es okay, dich auch auf dich und deine Sorgen zu konzentrieren.