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Die Jugend treibt die Corona-Zahlen hoch: Sollte man ihr deshalb die Schuld zuschieben?
Bei der ersten Corona-Welle machte kaum jemand eine bestimmte Altersgruppe für die Verbreitung des Virus verantwortlich. Die Pandemie brach über Deutschland und die Menschen herein wie ein Unwetter. Bei der zweiten Welle ist das anders. Es scheint so, als sei es diesmal gerade die Jugend, die die Fallzahlen nach oben treibt. Und tatsächlich: Laut Robert-Koch-Institut machte die Gruppe der 20- bis 29-Jährigen in der vergangenen Woche mehr als 20 Prozent der nachweislich Infizierten aus – Anfang April waren es noch 13 Prozent. In Berlin ist der Anteil der Jüngeren unter den Infizierten noch einmal höher.
Dazu passen die Meldungen der vergangenen Wochen: Immer wieder gab es Partys, bei denen meist Jüngere zusammenkamen, sei es in der Berliner U-Bahn oder auf einem Rave in München. Adressiert an die Jugend sagte Angela Merkel (CDU) vor einer Woche: „Denken auch Sie einmal an das, was Ihnen am wichtigsten ist. Ist es nicht die Gesundheit Ihrer Familie, auch Ihrer Großeltern?“ Und Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg, sagte über „die Jugend“: „Partys muss man nicht feiern, arbeiten und lernen schon.“ Die Politik macht jungen Menschen ein schlechtes Gewissen. Und schon im September warnte auch die Weltgesundheitsorganisation WHO, dass vor allem Junge die Ausbreitung begünstigen. Bleibt die Frage, was die Schuldzuweisungen bringen – und wie gerechtfertigt sie sind.
Die Faktenlage ist vor allem eines: ziemlich dünn
Familienministerin Franziska Giffey (SPD), die auch die Ministerin für die Jugend ist, wählte am Montag einen anderen Ton. Sie sagte: „Ich bin nicht dafür, dass wir die jungen Menschen pauschal verurteilen. Die Grenze verläuft nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen vernünftig und unvernünftig.“ Denn abgesehen von den Infektionszahlen ist die Faktenlage vor allem eines: ziemlich dünn.
Hört man sich einmal um bei den Städten, die in den vergangenen Tagen den kritischen Wert von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner überschritten haben, können diese zwar bestätigten, dass es vor allem die Jungen sind, die sich neu anstecken. Geht es allerdings danach, welche Altersgruppe besonders häufig gegen die Maßnahmen und Regeln verstößt, beispielsweise gegen die Maskenpflicht oder Kontaktverbote, gibt es kaum Daten.
Zahlen zu Corona-Verfahren gegen Unter-30-Jährige zeigen wohl ein falsches Bild
Die von jetzt angefragten Ordnungsämter führen keine Zahlen darüber, wie alt die Personen sind, denen sie Bußgelder ausstellen. Weder in Bremen noch in Gelsenkirchen, Stuttgart, Dortmund, Frankfurt, Berlin oder Hamburg. In Köln dagegen werden wir fündig: Hier richten sich fast 60 Prozent aller Verfahren aufgrund von Corona-Verstößen gegen Unter-30-Jährige. Doch diese Zahl spiegelt vermutlich ein falsches Bild wider, denn: „Eine Vielzahl der Verstöße werden vom Ordnungsdienst der Stadt Köln in den Abendstunden beziehungsweise am Wochenende geahndet. Erfahrungsgemäß sind zu diesen Zeiten auf den Straßen mehr jüngere Bürger unterwegs“, wie der Pressesprecher der Stadt Köln mitteilt. Außerdem seien noch nicht alle Vorgänge erfasst. Auch die Arten der Verstöße lassen sich nicht nach Altersgruppen aufschlüsseln.
Genauso wenig gibt es Zahlen zum Alter der Reiserückkehrer*innen oder der verwarnten Personen in der Bahn. Ob die Jüngeren hier besonders rücksichtslos sind, lässt sich nicht sagen. Gleichzeitig ist es wahrscheinlich, dass viele Verstöße gar nicht geahndet werden. Eine viel zu große, viel zu enge WG-Party, über die sich niemand bei der Polizei beschwert, wird in keiner Statistik auftauchen. Klar ist aber auch, dass zu den sogenannten Superspreader-Events auch solche gehörten, die alle Altersklassen umfassen – beispielsweise Hochzeiten oder Trauerfeiern. Was allerdings hängen bleibt, sind vor allem die medial präsenten Ereignisse. Etwa die junge Amerikanerin, die beim Feiern in Garmisch-Partenkirchen etliche Menschen angesteckt haben soll – was sich im Nachhinein als zumindest fraglich erwiesen hat.
Dass sich Jung und Alt in ihrer Haltung nicht sonderlich unterscheiden, zeigen die Ergebnisse von Cornelia Betsch. Die Psychologin untersucht in einer Studie an der Universität Erfurt seit einem halben Jahr in regelmäßigem Abstand, wie die Menschen im Land zu den Corona-Maßnahmen stehen. Ganz allgemein stellt sie fest, dass die Jungen, wie die Älteren, zu Beginn der Pandemie überzeugt den Schutzmaßnahmen gefolgt sind. Anfang April sagten rund 90 Prozent der Unter-30-Jährigen, dass sie Feiern vermeiden und Abstand zu anderen halten. Bei den Über-30-Jährigen waren es rund 95 Prozent. Im Sommer dann, als die Fallzahlen sanken, wurden die Menschen nachlässiger – allerdings die Jungen genauso wie die Alten.
Im September gab es bei der Frage danach, ob man die Corona-Maßnahmen für übertrieben hält, keine signifikanten Unterschiede in den Antworten von Jung und Alt. Bei der Frage danach, ob die Lockerungen übertrieben seien, stimmten sogar mehr Junge zu als Ältere, auch wenn der Unterschied nicht statistisch signifikant ist.
Anders denken die Altersgruppen mittlerweile aber darüber, wie sie sich selbst verhalten. Die Jüngeren meiden demnach schlecht gelüftete Räume und größere Menschengruppen deutlich seltener als die Älteren. Hier kann man den Jüngeren also durchaus eine gewisse Fahrlässigkeit vorwerfen. Jedenfalls dann wenn aus dieser leichtfertigen Haltung leichtfertiges Handeln wird.
Ein 25-Jähriger hat im Schnitt doppelt so viele Kontakte wie ein Mensch im Rentenalter
Bedingt kann der Anstieg auch dadurch sein, dass Jüngere schlicht andere Lebensumstände haben. Ein 25-Jähriger hat im Schnitt doppelt so viele soziale Kontakte wie ein Mensch im Rentenalter. Diese Kontakte lassen sich einschränken, aber für viele Jüngere bleiben Zwänge, die diese Einschränkungen erschweren: 30 Prozent der Studierenden wohnen in einer Wohngemeinschaft. In teuren Großstädten wie München ist es kaum möglich, für den Bafög-Wohngeldsatz eine Wohnung zu bekommen, die größer ist als 15 Quadratmeter. Das macht es nicht gerade leichter, das Alleinsein auszuhalten.
Geht es nach Cornelia Betsch, sollte man ohnehin weniger danach schauen, wer die Schuld trägt an der zweiten Welle. Denn die Tatsache, dass die Jüngeren das Virus weniger gefährlich finden, wird sich trotz aller Mahnungen eher nicht ändern. Auch wenn der Virologe Christian Drosten, wie kürzlich, davor warnt, dass das Virus auch für Jüngere gefährlich werden kann.
Stattdessen hält Betsch es für sinnvoller, auf die Jugend zuzugehen: „Die Jungen wollen feiern gehen. Wir sollten also lieber überlegen: Wie können sie sicher feiern gehen, weil sie ohnehin feiern gehen werden?” Betsch stellt in ihrer Untersuchung fest, dass im Verlauf der Pandemie immer mehr Menschen „pandemiemüde” geworden sind. Diese Menschen sind tendenziell männlich und jung. Auch die WHO, die noch im September darauf aufmerksam machte, dass die Jungen die Infektionszahlen nach oben treiben, hat das Problem dieser Pandemie-Müdigkeit erkannt. In einem Zehn-Punkte-Plan rät sie deshalb unter anderem: Es sei sinnvoller, auf die Leute einzuwirken, als ihnen Schuld zuzuweisen. Das löse nur Abwehrreflexe aus.
Anm. d. Red.: Dieser Text wurde am 17.10.2020 um die Zahlen zu den Corona-Verfahren aus Köln ergänzt.