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Teil 2: Die Leiden des alten W.
Balthasar trägt keine rosa Hemden. Frisör ist er auch nicht. Aber Sex mit Frauen findet er irgendwie langweilig. Außerdem verliebt er sich grundsätzlich nur in Typen. Deswegen ist Balthasar doch nicht etwa schwul, oder?
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Illustration: karen-ernst
In der Tankstelle gab es alles. Fertiggerichte, Alkohol, Klopapier, Schokostreusel, Zahnbürsten, Enthaarungscreme und Bilderbücher. Ach so, Benzin natürlich auch. Außerdem war eine grün-braune Kuckucksuhr aus Plastik im Angebot, die man aufziehen konnte. Alles erinnerte Balthasar irgendwie an Kevin, ständig. Der Onkel-Dittmeyer-Darsteller auf dem Werbeplakat hatte Kevins Augen. Der Schatten, den der Konservendosen-Turm warf, war wie Kevins Schatten. Zum Glück konnte der Turm sich nicht bewegen. Sonst hätte er Balthasar bestimmt an Kevins Gang erinnert. Balthasar sah bleich aus. Es war furchtbar anstrengend, immerzu an einen Typen zu denken und sich dabei einzureden, man würde nicht an ihn denken. Schwul zu sein und sich einzureden, man wäre nicht schwul. Außerdem musste Balthasar die ganze Nacht in der Tankstelle stehen, um sich als mittelmäßiger Betriebswirtschaftslehre-Student eine mittelmäßige Wohnung und das mittelmäßige Mensaessen finanzieren zu können. Toll. Toll. Toll.
Ein Kunde. Der etwa 60-jährige Mann war in einen grauen Anzug gekleidet, wobei Anzug und Hose unterschiedliche, sich beißende Grautöne aufwiesen. Er ging seltsam gebeugt, gewollt unauffällig, wirkte dabei jedoch zappelig. Obwohl es nach Mitternacht war, verbarg er seine Augen hinter einer Sonnenbrille, als er den hell erleuchteten Verkaufsraum betrat. Wer war diese seltsame Gestalt? Der Tankstellen-Räuber, von dem Balthasar in der Lokalzeitung gelesen hatte?
Der alte Lehrer
Dann erkannte Balthasar den Mann. Es war Herr Wächtermann, sein ehemaliger Deutsch- und Lateinlehrer. Wächtermann war selbst für die Verhältnisse des kreuzkatholischen Privatgymnasiums, das Balthasar besucht hatte, ein besonders strenger Lehrer. Jeden Tag suchte Wächtermann sich ein neues Opfer. Denn er begann den Unterricht morgens gern damit, einen Schüler dazu aufzufordern, „doch mal spontan und in eigenen Worten ein andächtiges Morgengebet zu formulieren“. Vor dieser Aufgabe konnte man sich nicht drücken. Vor allem aber konnte man beten, was man wollte, tief schürfend oder banal, vorbereitet oder unvorbereitet: Wächtermann fand hinterher immer einen Anlass, das Gesagte umfassend zu analysieren und darin Belege für die Dummheit und sittliche Unreife des Schülers und seiner ganzen Generation zu finden. Auch danach ließ er von dem Schüler nicht ab: „Sie haben doch Vokabeln gelernt?“ Den Zwischenstand der folgenden Zehn-besonders-schwere-Vokabeln-Inquisition fasste der Lehrer stets in Sportergebnisse, obwohl er sonst nicht wie ein Sportfan wirkte: „Es steht jetzt 6:2 für mich, Sie können nicht mehr gewinnen.“ Göttlich-diabolisches Lehrergrinsen.
Nur wenn Wächtermann im Deutschunterricht Goethes Die Leiden des jungen Werthers durchnahm und dabei von aussichtsloser Liebe sprach, wirkte er anders. Sanfter, bewegt, fast verletzlich. Wächtermann wurde deswegen in Schülerkreisen Der alte W. genannt.
Schwänze kaufen
Balthasar entschied sich, seinen ehemaligen Lehrer nicht anzusprechen. Der Preisscanner erfüllte seine Pflicht. Wächtermann reichte ohne Worte einen Schein herüber. Alles ging sehr schnell. „Gott sei dank, er hat mich nicht erkannt“, dachte Balthasar. „Sonst hätte er mich noch Verben konjugieren lassen.“ Erst als der Lehrer zur Tür heraus war, wurde Balthasar bewusst, was er verkauft hatte: ein Pornoheft für Schwule. Nebenbei bemerkt eins mit besonders ansehnlichen Schwänzen. (Nicht, dass Balthasar sich das je absichtlich angesehen hätte – nein, nein. Aber die Zeitschriften mussten ja immer mal wieder neu sortiert werden.)
Auf dem Heimweg war dann offensichtlich auch Wächtermann klar geworden, dass der Verkäufer hinter dem Tresen ein ehemaliger Schüler war. Jedenfalls stand er auf einmal wieder im Verkaufsraum der Tankstelle. Noch zappeliger als zuvor. Viele Schüler hätten viel darum gegeben, ihn einmal so zu sehen.
Wächtermann (rot im Gesicht): Gut, dass Sie noch da sind.
Er reichte die Pornozeitschrift über den Verkaufstresen an Balthasar.
Wächtermann (stammelnd): Da hab ich mich anscheinend vergriffen. Sie nehmen das zurück, oder?
Balthasar hätte jetzt sagen können: „Haben Sie noch den Kassenzettel? Sonst steht es nämlich 1:0 für mich. Wenn es nicht schon längst 2:0 oder 3:0 für mich steht. Heute haben Sie verloren.“ Doch er nickte stumm und nahm die Zeitschrift.
Wächtermann: Ich wollte eine Fernsehzeitschrift kaufen. Ich weiß auch nicht, wie das passiert ist. Hier ist jetzt die richtige.
Wächtermann entschuldigte sich ausschweifend für den – versehentlichen – Fehlgriff, erkundigte sich nach Balthasars Wohlbefinden, und betonte, Balthasar sei ihm zur Schulzeit immer als außergewöhnlicher junger Mann aufgefallen. Dann entschwand er eilig. „Meine Gattin wartet. Sie kann allein meist nicht einschlafen.“ Balthasar hatte noch einige Stunden Nachtschicht, viel Zeit zum Nachdenken. Über Wächtermann und Frau. Über Kevin. Über sein eigenes Leben. Ihm wurde klar: „Das Leben ist eine Tankstelle. Rund um die Uhr geöffnet. Es gibt fast alles, was man haben möchte. Aber es ist nichts vollkommen umsonst. Wer sich für das schämt, was er wirklich will, bekommt nur eine blöde Fernsehzeitschrift.“
Balthasar wollte mehr vom Leben als eine blöde Fernsehzeitschrift. Er wollte nicht enden wie Der alte W.